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Wiener
Vorlesungen zur Literatur
WILDCARDS
I
In meinen beiden Vorlesungen zur Literatur möchte ich mich mit
bestimmten Grundvoraussetzungen der literarischen Arbeit befassen. Damit
meine ich einerseits ein kulturelles Hintergrundverhalten, wie es uns
in der zweiwertigen Logik des Aristoteles vorgegeben ist ... dieses
"wahr – falsch" der aristotelischen Logik mit seinen Differenziationen
in Richtung Moral, also "gut – schlecht", in Richtung Technik, "ein
– aus", in Richtung Soziologie, "männlich – weiblich", in Richtung
Wetterbericht, "hoch – tief" usw., und das gesamte Wertesystem, das
damit zusammenhängt.
Von der zweiwertigen
Logik, die uns einen riesigen verästelten Entscheidungsbaum zur
Verfügung stellt, der uns harte, ja grausame Zwänge aufdrängt,
uns aber auch schöne, intelligente und sensible Verfeinerungen
anbietet, möchte ich andererseits den grossen Schritt tun zur Erforschung
des Beobachters, nämlich den Blick richten auf das Denken, das
sich selbst denkt.
Die Rolle des Beobachters
und die sich daraus ergebenden epistemologischen Probleme fallen zuallererst
in der Quantenmechanik auf, also in der Interferenz von Beobachter und
beobachtetem Objekt. Dann in der Erforschung der Künstlichen Intelligenz,
die laufend Turing-Maschinen baut, die vielleicht wie das menschliche
Gehirn funktionieren, oder doch nicht? Die Vermischung von Subjekt und
Objekt, die in der Metamathematik Kurt Gödels stattfindet. Die
Idee Roman Jakobsons, dass sich die Sprache aus einem distinktiven Phonemsystem
aufbaut, und die weitreichenden Implikationen dieses Ansatzes für
Psychologie & Psychoanalyse. Ist die Literatur die Metasprache der
Gesellschaft?
Was die Welt
zusammenhält
Harte Zeiten
- Weiche Knie
Volle Brüste - Leere Taschen
Heisse Nächte - Kalter Kaffee
Saure Trauben - Süsses Leben
Enge Hosen - Weite Herzen
Teure Heimat - Billige Angebote
Reiche Ernte - Arme Schlucker
Grosse Chancen - Kleine Fische
Dünne Suppe - Dicke Luft
Leichte Mädchen - Schwere Geschütze
Helle Köpfe - Dunkle Geschäfte
Lange Finger - Kurzer Prozess
Alte Lieder - Neue Gesichter
Scharfe Sachen - Milder Wein
(aus: Liesl
Ujvary, Sicher & Gut)
Alfred North Whitehead,
der zusammen mit Bertrand Russell das Buch "Principia Mathematica" verfasst
hat, schrieb in seinem Buch "Science and the Modern World":
"In jedem Zeitalter
wird die allgemeingültige Interpretation der Welt der Dinge von
einem System von unangefochtenen und nicht erkannten Vorannahmen kontrolliert
und der Geist jedes einzelnen, auch wenn er glaubt, sehr wenig Gemeinsames
mit seinen Zeitgenossen zu haben, ist nicht ein abgeschlossener Raum,
sondern eher wie ein kontinuierliches Medium, die umgebende Atmosphäre
seines Ortes und seiner Zeit."
Dieses Hintergrundverhalten
wird meist nicht erkannt, und der Versuch, es zu erkennen, verändert
es bereits. Die aristotelische Logik herrscht bis heute und sie formt
unser Denken bis in Verästelungen und Einzelheiten hinein, die
wir nicht als solche wahrnehmen können. Die heutige Technologie
und die Entscheidungsprozesse, die heute unser Leben bestimmen, beruhen
alle auf der zweiwertigen Logik. Der Beginn der formalen Logik liegt
bei Aristoteles. Allerdings herrschte bis zum Ende des 19. Jhds. ein
intuitiver Begriff der Wahrheit, erst Mathematiker wie George Boole,
Gottlob Frege und Peano arbeiteten an formalen Begriffen der Beweisbarkeit.
Was ist überhaupt ein Beweis? In der Mathematik ist das nämlich
nicht so klar. Wichtig ist, festzuhalten, dass Beweise innerhalb fester
Systeme von Aussagen operieren. Boole ging mit der Kodifizierung streng
deduktiver Denkmuster weit über Aristoteles hinaus, sein Buch nannte
er "Die Gesetze des Denkens".
Die Aussagenlogik
nach Boole beruht erstens auf der Negation: "Heute regnet es. Es ist
nicht wahr, dass es heute regnet." Zweitens auf der Konjunktion:
"Die Sonne scheint und es ist warm." Drittens auf der Disjunktion:
"Es ist warm oder es ist kalt." Viertens der Implikation: "Wenn
die Sonne scheint, dann ist es warm."
Es geht dabei nicht
um inhaltliche Wahrheit, es geht um logische Wahrheit – Tautologien
nennt man diese 'immer wahren' logischen Formeln. Die Logik setzt voraus,
dass feststeht, ob Aussagen 'wahr' oder 'falsch' sind, woher diese Einsicht
stammt, spielt keine Rolle. Tautologien dienen dazu, widerspruchsfreie
Axiomensysteme aufzubauen – darin darf keine Formel zugleich mit ihrer
Negation beweisbar sein. Gleichgültig, wie umfangreich diese Axiomatik
ist, sie impliziert immer die Annahme einer vollständigen Information
der Wissensbasis, die sogenannte "Closed World Assumption", einer "geschlossenen
Welt" also. Das Programm prüft die Hypothese nur an seinen Axiomen.
Boole war also der
Überzeugung, dass sich menschliches Denken vollständig durch
zwei Werte beschreiben lässt: wahr oder falsch. Dieses starre Regelsystem
beruht auf dem Satz der Identität, dem Satz vom Widerspruch und
dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten:
Alles ist mit
sich selbst identisch und verschieden von anderem. Von zwei Sätzen,
von denen einer das Gegenteil des anderen aussagt, muss einer falsch
sein. Und: Von zwei sich völlig widersprechenden Aussagen muss
eine wahr, eine falsch sein.
Dieses scharfe Instrumentarium
bescherte der westlichen Welt, besser gesagt der ganzen Welt, ein herrliches
und furchtbares Maschinendenken und Maschinenleben, dessen Fortschritte
und Fortschreiten wir miterleben.
Nun mag uns zwar
scheinen, als bestünde unser ganzes Dasein in einem fortwährenden
Erleiden dieser in sich gleichartig durchstrukturierten Lebenswelt -
dass dem nicht so ist, beweist schon ein Blick auf die überraschenden
Resultate der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie, auf
die schönen und mutigen logischen Folgerungen, die Kurt Gödel
anstellte, auf die weitreichenden Implikationen, die Jakobsons Phonemtheorie
für Sprache und Denken, Psyche und Psychoanalyse anbietet. Über
Literatur möchte ich hier nicht sprechen, ich werde sie dafür
direkt zu Wort kommen lassen.
Was ist ein
Paradigmenwechsel? Wie kündigt sich ein Paradigmenwechsel an?
Thomas Kuhn:
"Die Frage ist noch offen, ob solche Umschwünge ganzer Netze
von Vorannahmen selten, plötzlich und ziemlich dramatisch geschehen
oder ob sie häufig und im stillen stattfinden. Wahrscheinlich
trifft beides zu."
Die Quantenmechanik
setzt die aristotelische Logik ausser Kraft und sollte deshalb auch
die Werthierarchien und die auf ihnen basierenden Rollenbilder aushebeln.
Wir wissen, dass
Elementarteilchen, Elektronen etc., je nachdem als Teilchen oder als
Welle auftreten, also sie haben zwei Aspekte. Es ist aber unmöglich
zu sagen, wann genau ein Elektron als Teilchen oder als Welle auftritt.
Es gibt da kein wahr-falsch, kein entweder-oder. Niels Bohr hat das
als "Komplementaritätsprinzip" bezeichnet - es gibt nur mehr Wahrscheinlichkeiten.
Das lässt sich sehr einfach darstellen, indem man einen Teilchenstrahl,
es kann auch ein Lichtstrahl sein, durch zwei Schlitze sendet und dahinter
auf eine empfindliche Fläche auftreffen lässt. Wenn das Elektron
oder Photon auftrifft, trifft es sozusagen als Teilchen auf, alle auftreffenden
Elektronen oder Photonen bilden aber zusammen ein einheitliches Wellenmuster.
Woher wissen die einzelnen Elektronen, die durch den einen oder anderen
Schlitz gehen, dass sie mit den Elektronen aus dem anderen Schlitz ein
einheitliches Wellenmuster bilden sollen, oder können, oder müssen?
Die Quantenmechanik macht also die Einführung eines Feldes erforderlich,
das mit jedem Teilchen verknüpft ist. So eine einheitliche Feldtheorie,
die das beschreiben sollte, gibt es aber noch nicht. Ausserdem zeigt
sich, dass bei allen Beobachtungen auf Quantenebene eine Interaktion
mit dem Messinstrument stattfindet. Bei jeder Messung ändert sich
das Feld abrupt!
Niel Bohr hat
das so formuliert: "Es geschieht das, was beobachtet wird, und es
wird bestimmt dadurch, wie es beobachtet wird. Darüber hinaus
gibt es keine weitere Beschreibung der Realität."
Die theoretische
Präzisierung dieses Sachverhalts, nämlich dass das Messinstrument
mit der beobachteten Realität interagiert, stammt von Heisenberg
und heisst
Heisenbergsche
Unschärferelation
die aussagt, dass
es eine inhärente Unbestimmtheit über die Position und den
Impuls eines Teilchens gibt in der Weise, dass, je genauer die Position
eines Teilchens eingegrenzt wird, desto grösser die Unbestimmtheit
des Impulses dieses Teilchens wird. Diese Unsicherheit zeigt sich in
der Unmöglichkeit, Position und Impuls gleichzeitig zu messen.
Die Heisenbergsche
Unschärferelation hat weitreichende Implikationen, auch für
unser Thema, nämlich dass es keine sozusagen "objektive" Beobachtung
einer Realität, eines lebenden Systems gibt, der Beobachter ist
immer auch Teil des Systems. Und indem wir über ein Problem sprechen,
verändern wir es. Das heisst, das es keine (wissenschaftliche)
Untersuchung, und sei sie noch so positivistisch, etwa über Aspekte
literarischer Rezeption geben kann, die die Situation nicht zugleich
verändert. Es bedeutet aber auch, dass man findet, was man sucht.
Daher die Aussage - "Das sehe ich erst, wenn ich es glaube", und auch
der Satz von Humberto Maturana - "Alles, was gesagt wird, wird von jemandem
gesagt." Wenn ein Physiker das in der technischen Hochschule sagt, hat
es eine andere Bedeutung, als wenn ich es hier sage.
Es bedeutet aber
auch, dass es in der Physik keine "objektive Realität" mehr gibt.
Die "objektive Realität" ist verschwunden - das sagen Physiker!
An ihre Stelle sind Erscheinungen getreten, die davon abhängen,
welche Art von Beobachtung und Wahrnehmung stattfindet. Wir, oder die
"Naturwissenschaftler", sind bis jetzt mit dieser Situation nicht fertig
geworden, und man hat sich auf etwas geeinigt, das die Physiker die
"Kopenhagener Interpretation" nennen und die von Niels Bohr stammt:
"Solange wir nicht eine definitive Beobachtung der Welt machen, ist
es sinnlos, ihr eine definitive Realität zuzuschreiben." Von den
Physikern wird das gerade anders herum aufgefasst, nämlich "dass
wir über eine pragmatische Handhabung hinaus nichts wissen können
und dass es daher zwecklos ist, darüber nachzudenken." So wird
heute gearbeitet, die Quantenmechanik funktioniert, und der Paradigmenwechsel
findet halt nur im CERN statt oder in den Instituten, darüber hinaus
wird nicht nachgedacht.
Ich möchte
dazu noch einen Punkt erwähnen, der sehr interessant ist und völlig
ungeklärt, das sogenannte "Bellsche Theorem". Es besagt, dass zwei
Teilchen, wenn sie einmal miteinander agiert haben, über weite
Entfernungen und lange Zeiten aufeinander bezogen bleiben. Die waren
einmal zusammen um einen Atomkern und ein Elektron ist dann ganz weit
weg, und wenn man bei dem einen Elektron das Drehmoment, den Spin, ändert,
ändert das andere seinen Spin auch. Das ist überhaupt nicht
geklärt, das ist ein sogenanntes "nichtlokales" Phänomen,
d.h. nicht-kausal, sollte man eigentlich sagen, es fällt heraus
aus der Kausalität oder es verweist auf Bereiche, in denen andere
Gesetze gelten.
Der Physiker Paul
Davies sagt dazu in seinem Buch "Mehrfachwelten": "Diese Aussagen sind
so erschütternd, dass die meisten Wissenschaftler eine Art Doppelleben
führen: sie akzeptieren sie im Labor, aber im täglichen Leben
lehnen sie sie ohne zu überlegen ab." Paradigmenwechsel vollziehen
sich nicht so einfach. Einstein lacht uns von den Plakatwänden
entgegen, aber seine Theorien werden praktisch nicht akzeptiert.
Ein anderer Aspekt
der Erforschung des Beobachters war die Idee Kurt Gödels, mathematisches
Denken zur Erforschung des mathematischen Denkens selbst zu verwenden.
Dieser Einfall, die Mathematik "introspektiv" zu machen, erwies sich
als ungeheuer fruchtbar, und seine vielleicht weitestreichende Folge
war der nach Gödel benannte Unvollständigkeitssatz.
"Alle widerspruchsfreien
axiomatischen Formulierungen der Zahlentheorie enthalten unentscheidbare
Aussagen."
Dieser Satz, das
ist die Perle, meint Douglas R. Hofstadter. Der Beweis von Gödels
Unvollständigkeitssatz beruht darauf, dass man einen selbstbezüglichen
mathematischen Satz niederschreibt, ähnlich dem Paradoxon von Epimenides:
"Alle Kreter sind Lügner." Oder: "Ich lüge." Oder: "Diese
Aussage ist falsch." Oder: "Dieser Satz ist unwahr." Diese Paradoxa
sind selbstbezügliche sprachliche Aussagen – während es aber
sehr einfach ist, in der Sprache über die Sprache zu reden, ist
es in der Mathematik nicht so einfach, mit Zahlen über Zahlentheorie
zu sprechen.
Gödel erkannte,
dass eine zahlentheoretische Aussage etwas über eine zahlentheoretische
Aussage aussagen kann, wenn man nur irgendwie bewirken könnte,
dass Zahlen Aussagen repräsentieren. Mit anderen Worten: das Kernstück
seiner Konstruktion ist die Vorstellung von einem Code. Im Gödel-Code
– "Gödelisierung" genannt, stehen die Zahlen für Symbole
und Symbolfolgen. Auf diese Weise erhält jede Aussage der Zahlentheorie
eine Gödel-Nummer, etwa wie eine Telefon- oder Autonummer, mit
der sie bezeichnet werden kann. Und ein Kunstgriff des Codierens macht
es möglich, dass man zahlentheoretische Sätze auf zwei verschiedenen
Ebenen verstehen kann: als zahlentheoretische Aussagen und auch als
Aussagen über zahlentheoretische Aussagen.
Gödel wollte
damit nicht sagen: diese Aussage ist falsch, sondern
"Für diese
zahlentheoretische Aussage gibt es keinen Beweis."
In Gödels Fall
ist das feste System zahlentheoretischer Schlüsse, auf diese sich
das Wort "Beweis" bezieht, das der "Principia Mathemtica" von Bertrand
Russell und Alfred North Whitehead (1913). Deswegen sollte der Gödel-Satz
in seiner umgangssprachlichen Fassung genauer lauten:
"Für diesen
Satz der Zahlentheorie gibt es im System der Principia Mathematica
keinerlei Beweis."
Oder noch einfacher:
"Dieser Satz
ist unbeweisbar."
Vor Gödel fielen
Wahrheit und Beweisbarkeit, Falschheit und Widerlegbarkeit, Unbestimmtheit
und Unentscheidbarkeit zusammen. Erst Gödel zeigte, dass es inhaltlich
erschlossene Wahrheiten gibt, die mit dem Standardregelsystem der Mathematik
nicht bewiesen werden können. Insofern ist Wahrheit umfangreicher
als Beweisbarkeit: es gibt mehr Wahrheiten als beweisbar sind. Da jedoch
die Beweisbarkeit besser intersubjektivierbar und nachvollziehbar ist,
können wir auch sagen, dass Wahrheit schwächer als Beweisbarkeit
ist, jedenfalls bezogen auf Genauigkeit, Klarheit und Überzeugungskraft.
Kurt Gödel
studierte, dachte und arbeitete in Zusammenhang mit dem Wiener Kreis,
dem in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Naturwissenschaftler
und Philosophen wie Moritz Schlick, Otto Neurath, Fritz Mauthner, Rudolf
Carnap, Ludwig Wittgenstein angehörten. Vorbild war der Verein
"Ernst Mach", dessen Tradition fortgeführt werden sollte. Mach
hatte gelehrt, dass die begriffliche Analyse der Widersprüche von
Theorien einen Fortschritt in der Naturerkenntnis mit sich bringt. Durch
die Explikation und Dekonstruktion der physikalischen Begriffe hat Mach
das Feld für die Einsteinsche Relativitätstheorie vorbereitet.
Insbesondere seine Kritik der Newtonschen Mechanik mit ihrer Vorstellung
der absoluten Zeit, des absoluten Raumes und des invarianten Trägheitsprinzips
war von Bedeutung. Sein theoretischer Ansatz beeinflusste auch Künstler,
Philosophen und Ökonomen und prägte den Diskurs der Jahrhundertwende.
Lenin verfasste seine einzige philosophische Schrift "Materialismus
und Empiriokritizismus" (1909) als Kampfschrift gegen die Machsche Denkweise.
Das vordringliche
Anliegen des Wiener Kreises war die Vernichtung der Metaphysik. Wie
lässt sich ein wissenschaftlicher Satz von einem metaphysischen
abgrenzen? Moritz Schlick forderte die Verifizierbarkeit als Kriterium.
Friedrich Waismann meinte: "Kann auf keine Weise angegeben werden, wann
ein Satz wahr ist, so hat der Satz überhaupt keinen Sinn: denn
der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation." Man wollte
alle Wissenschaften auf eine Grundwissenschaft, die Physik, reduzieren.
Otto Neurath und Rudolf Carnap forderten, jeder Satz einer beliebigen
Sprache müsse in die Sprache der Physik übersetzt werden können.
Auch Ludwig Boltzmann war durch seinen Modellbegriff für den Wiener
Kreis wichtig – er implizierte die Ansicht, dass unsere Wissenschaft
nicht die Natur selbst, sondern nur Modelle der Natur erfasst. Diese
Modelle ändern sich je nach unseren Theorien und müssen logisch
widerspruchsfrei sein, empirisch überprüfbar, ein Maximum
an Information besitzen und denkökonomisch, d.h. minimal redundant
sein.
So zeitgebunden
uns diese Ansätze heute scheinen mögen, wenn etwa die Physik
als Grundwissenschaft und Beweisbarkeit als oberstes Kriterium gesehen
wird, so modern sind sie andererseits durch ihre durchgehende Sprachbezogenheit
und den selbstreflexiven Duktus ihrer Denkmuster.
Ludwig Wittgenstein
wandte sein Prinzip
"Die Grenzen
meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt"
auch auf die Mathematik
an. Das hiess, dass die Mathematik sich nur mit solchen Objekten befassen
kann, die sich auch in der Sprache der Mathematik formulieren lassen.
Implizit wird hier die Möglichkeit der Wahrheitsfindung von mathematischen
Sachverhalten mit den sprachlichen Mitteln der Mathematik vorausgesetzt.
Wittgenstein trug dazu bei, dass im Wiener Kreis die Sprache als philosophisches
Sujet thematisiert und im Sinn einer sprachkritischen Theorie in Frage
gestellt wurde. So fand Kurt Gödel im Wiener Kreis eine Denkart
vor, die ihn von der formal-logizistischen Auffassung der Sprache wegführte
und ihn für eine intuitive Sichtweise und einen sprachkritischen
Realismus sensibilisierte.
Gödels Unvollständigkeitssatz
ist zugleich Bestandteil der Objektsprache und Bestandteil der Metasprache
und widerlegte so Wittgensteins Prinzip, die Grenzen der Sprache seien
die Grenzen der Welt. Gödel sah, dass die Tragfähigkeit der
Sprache im Sinne formaler Beweisbarkeit ungenügend ist. Die mathematische
Welt ist, nach Gödel, vielfältiger und in diesem Sinne stärker
als die mathematische Sprache. Die Sprache ist manchmal präziser
als das Denken, jedoch zugleich schwächer in dem Sinn, dass ihre
Syntax nicht alle Modellvorstellungen nachzuvollziehen gestattet. Das,
was bewiesen werden kann in und mit der Sprache, ist weniger als die
Wahrheitsfähigkeit des Denkens. Und das wiederum ist weniger und
also schwächer als das, was in der Welt möglich ist.
"Sprache" kann
keine "exakte Beschreibung" von "Welt" liefern.
Diese drei Bereiche,
in denen menschliches Denken stattfindet, durchdringen und berühren
sich auf vielfältige und höchst unterschiedliche Weise – es
gibt identische homomorphe Bereiche, es gibt Bereiche, die nach mehr
oder weniger abweichendem Reglement funktionieren, und sicher auch Bereiche,
die kaum etwas oder gar nichts voneinander wissen.
Gödel hat die
Labyrinthe der Selbstreflexion mit mathematischen Mitteln aufgezeigt.
Er konnte die Wege ins Labyrinth und die Wege aus dem Labyrinth nach
rationalen Regeln durchleuchten.
Gödels "Unvollständigkeitssatz"
zeigt aber auch die Grenzen des Computerdenkens und die Grenzen der
Künstlichen Intelligenz. Obwohl er ursprünglich aus der mathematischen
Logik kommt, hat der Gödelsche Satz heute seine zentrale Bedeutung
in der theoretischen Informatik. In beiden Fällen handelt es sich
um die Selbstreferenz formaler Systeme.
Gödel glaubt,
dass das Gehirn nicht das gesamte Denken erzeugt, sondern dass der Geist
eines Menschen mehr ist als dessen Gehirnfunktion. Da die formalen Beweissysteme
der Logik eine vollständige Korrespondenz mit den Turing-Maschinen
aufweisen, bedeutet das de facto, dass Computer nie alle mathematischen
Wahrheiten beweisen können. Es ist aber genauso fragwürdig,
ob wir Menschen dazu imstande sind.
Oswald Wiener: "Die
Kapazität eines sequentiellen Computers ist mit solchen Programmen,
welche die Leistungen der Intelligenz zwar in einem einigermaßen
natürlichen Zeitrahmen, aber nur in kleinen Ausschnitten (und vermutlich
falsch) illustrieren, ziemlich bald erschöpft. Selbstbeobachtung
lässt eine ganz andere Grössenordnung der Parallelität
ahnen. Denn selbst das blosse "Haben eines Gegenstands" ist stets von
einer inneren Landschaft getragen, die ihn einigermaßen stabil
hält und seine für den Augenblick wichtigsten Aspekte profiliert
(vergleichbar dem "Hören" der Harmonien beim Erklingen oder sogar
beim Vorstellen einer einstimmigen Melodie). Auch der Fokus der Aufmerksamkeit,
die wohlbekannte "Enge des Bewusstseins", ist eine enge Weite.
Zwar muss das "gedehnte Zeitmoment" des Bewusstseins (Husserls "Zeithof")
ein räumlicher Parallelismus sein – jenes das Reden begleitende
Wissen z.B., welche Teile des Gedankens im laufenden Satz bereits ausgesprochen
sind; oder das Wissen, wie eine gerade laufende Handlung in eine Absicht
passt; usw. – aber das unterstreicht nur die Rätselhaftigkeit der
empfundenen Dynamik: wie kann ein Vorgang parallel gegeben sein, eine
"Gleichzeitigkeit des Nicht-Gleichzeitigen?"
Mit Gödel erfinden
wir nicht, sondern wir entdecken!
Die Wirklichkeit
ist mehr, als wir darüber aussagen können, aber wir können
auch mehr denken, als wir aussagen können.
Unser Gehirn
kann mehr, als uns bewusst ist.
Anders als der Computer
ist sich das menschliche Gedächtnis augenblicklich dessen bewusst,
was es enthält – und was nicht. Es braucht keine Liste. Wann wurden
Sie geboren? Wenn Sie das nicht wissen, wissen Sie, dass Sie es nicht
wissen, und dass kein noch so intensives Nachdenken Ihnen das Datum
ins Gedächtnis rufen wird.
Kann Gödels
Satz in die Psychologie übersezt werden? Können wir uns selbst
sehen? Können wir uns selbst verstehen?
Die psychischen
Mechanismen müssen sich gleichzeitig mit den inneren Bedürfnissen
des einzelnen nach Selbsteinschätzung und dem ständigen, die
Ansicht des Ich von sich selbst beeinflussenden Beweisfluss von aussen
beschäftigen. Das Ergebnis ist, dass Information in einem komplexen
Strudel zwischen verschiedenen Ebenen der Persönlichkeit fliesst.
Während sie sich um sich selbst dreht, werden Teile davon vergrössert,
reduziert, verneint oder sonst irgendwie verzerrt, und die Teile ihrerseits
sind der gleichen Art von Strudel ausgesetzt – immer und immer wieder.
Das Ergebnis ist,
dass das Gesamtbild des "Wer bin ich" auf äusserst komplexe Weise
in der gesamten geistigen Struktur integriert ist, und in jedem von
uns eine grosse Anzahl von ungelösten, vielleicht gar nicht zu
lösenden Widersprüchen enthält. Diese liefern einen grossen
Teil der dynamischen Spannung, die für uns Menschen so bezeichnend
ist.
Was bedeuten alle
diese Überlegungen für unser Thema, also für die literarische
Arbeit? Erstens sollten wir uns vor Augen halten, dass beispielsweise
"die Welt" und "die mathematische Welt" nicht so direkt zu vergleichen
sind. Auch "die Sprache" und "die mathematische Sprache" sind nicht
einfach gleichzusetzen. Die reinlichen Trennungen, die in der mathematischen
Logik möglich und notwendig sind, lassen sich in der Welt bzw.
der Sprache nicht vornehmen. Hier ist alles viel schmutziger, noisiger,
verrauschter. Diese riesigen Haufen Schmutz und dieses oft ohrenbetäubende
Rauschen können aber auch Perlen evolutionärer Tätigkeit
beinhalten, das können wir nicht wissen, die Evolution nimmts da
nicht so genau. Denken wir nur daran, dass über 80 % unserer DNA
sogenannte Junk-DNA ist, d.h. nicht eingeschaltete DNA, die aber da
ist, vielleicht als Reservoir für notwendige oder interessante
Mutationen. Auch die DNA ist übrigens eine Sprache und auch so
aufgebaut.
Was die Literatur
mit dem Gödelschen Theorem gemeinsam hat, also wo eine Analogie
möglich scheint, ist die Verwendung von Metasprache und Objektsprache
im Text. Nur eben – die Objektsprache besteht ja nicht nur aus Objektakkusativ,
Konjugationen und Phonemen, vereinfacht ausgedrückt, sondern sie
ist selbst ein Kulturprodukt mit vielen Metaelementen aus Literatur
& Ideologie, Religion und Wissenschaft, Technik und Technologie.
Und die Metasprache ist nicht nur Metasprache in bezug auf die ohnehin
schon vieldimensionale Objektsprache, sie ist Metasprache vor allem
in bezug auf die Literatur selbst, weil sie sich vor allem auf die Literatur
bezieht, ja beziehen muss, auch wenn diese Tatsache vielen Autoren überhaupt
nicht oder nur zum Teil bewusst ist. Autoren erzählen Romane und
schreiben Erzählungen, weil sie eine Metasprache gar nicht kennen,
sondern glauben, sie können mittels der Sprache, so wie sie ist,
mit der Welt umgehen. Andere Autoren thematisieren die selbstbezüglichen
Aspekte des Schreibens sehr wohl und führen die Leser in ihrer
Literatur durch die komplexen Labyrinthe des Denkens.
II
Während wir die zweiwertige aristotelische Logik als wichtigstes
kulturelles Hintergrundverhalten bezeichneten und, als einen ihrer Aspekte,
die Formen logischen Schliessens samt der Denkmaschine, die das tut,
nämlich unserem Verstand, beobachtet und damit den Beobachter dieser
Systematik erforscht haben, ist der andere Aspekt kaum erwähnt
und eher links liegen gelassen worden, nämlich die Mechanismen
der Differenziation und wie sie unsere Wahrnehmung strukturieren und
bereichern.
Überraschende
Ähnlichkeiten
ein Gesicht
wie ein Bauch
ein Bauch wie ein Gasherd
ein Gasherd wie eine Tulpe
eine Tulpe wie eine Kuh
eine Kuh wie Packpapier
Packpapier wie ein nasses Handtuch
ein nasses Handtuch wie ein Laib Brot
ein Laib Brot wie ein Kuss
ein Kuss wie eine Fichte
eine Fichte wie ein Esslöffel
ein Esslöffel wie ein Ofenrohr
ein Ofenrohr wie eine Träne
eine Träne wie Auspuffgase
Auspuffgase wie Maresi-Alpenmilch
Maresi-Alpenmilch wie rostige Nägel
rostige Nägel wie ein Kopfpolster
ein Kopfpolster wie eine Hose
eine Hose wie ein Sonnenuntergang
ein Sonnenuntergang wie Gummistiefel
Gummistiefel wie Emmentalerkäse
Emmentalerkäse wie ein Schneefeld
ein Schneefeld wie ein Gesicht
(aus: Liesl
Ujvary, Sicher & Gut)
Roman Jakobson
hat in seiner Schrift
"Kindersprache,
Aphasie und allgemeine Lautgesetze"
geschrieben auf
deutsch, erschienen 1944 in Uppsala, eine exemplarische Darstellung
der phonematischen Differenziationsprozesse geliefert, die unsere Sprachentstehung
einrichten und gestalten. Er konnte dabei feststellen, dass Differenziation
immer von einfach zu kompliziert verläuft, und dass es eine Rangordnung
gibt, Hierarchien, die eingehalten werden. Es kann also in einem primitiven
Stadium der Differenziation keine Verfeinerungen geben. Und: der Abbau
der Sprachfähigkeit erfolgt beim aphasisch Kranken in genau umgekehrter
Reihenfolge.
Den eigentlichen
Sprachanfängen, schreibt Jakobson, geht die sogenannte Lallperiode
voraus, die bei vielen Kindern eine erstaunliche Menge und Mannigfaltigkeit
der erzeugten Laute zum Vorschein bringt. Ein lallendes Kind kann Artikulationen
aufhäufen, die sich nie innerhalb einer Sprache oder sogar einer
Sprachgruppe zusammenfinden: Konsonanten beliebiger Bildungsstelle,
erweicht und gerundet, Zischlaute, Affrikaten, Schnalze, noch kompliziertere
Vokale, Diphtonge usw. ... In der Blüte seiner Lallperiode ist
das Kind imstande, alle denkbaren Laute zu erzeugen.
Wenn das Kind dann
aber wirklich zu sprechen beginnt, beim Übergang vom Vorsprachstadium
zum ersten Worterwerb, also zur ersten wirklichen Sprachstufe, verliert
das Kind beinahe sein ganzes Lautvermögen. An die Stelle der phonetischen
Fülle des Lallens tritt die phonematische Kargheit der ersten Sprachstufen.
Die erste kindliche Sprachstufe beginnt mit einem deutlichen Auseinanderhalten
und Abgrenzen von Konsonant und Vokal, und derselbe Gegensatz kann auch
dann noch vom Aphasischen erkannt werden, wenn die übrigen Lautunterschiede
schon aufgegeben sind. Unter dem motorischen Gesichtspunkt sind diese
beiden Grundklassen der Sprachlaute als Hemmung und Öffnung
einander entgegengesetzt.
Das Optimum der
Öffnung wird laut Jakobson im breiten a-Vokal erreicht. Den äussersten
Gegensatz zum a-Vokal bilden die Verschlusslaute, und unter den Verschlusslauten
sind es wiederum die Lippenlaute, die den ganzen Mundraum sperren.
Zweierlei Unlustentladungen
waren dem Kind von jeher vertraut: der Schrei mit vokalartiger, a-ähnlicher
Mundöffnung und das nasale Murmeln. Dieses Näseln begleitet
die Äusserungen der Unzufriedenheit, das Weinen, die Seufzer.
Und da die Nasalität
für das Kind besonders affektbelastet ist, wogegen der Verschluss
an sich eher eine Affektschwäche ist, eine Beruhigung anzeigt,
so ist es leicht verständlich, dass der Nasalkonsonant im Gegensatz
zum oralen reinen Verschlusslaut an der Schwelle der Kindersprache sich
als Affektträger betätigt, nämlich als klagender, verlangender,
rufender Schmerzlaut und schliesslich als Rufname derjenigen, welche
die Affekte des Hungers und der Sehnsucht in erster Linie stillt: der
Mutter.
mama
Der orale Verschlusslaut
tritt dagegen als affektfreieres bzw. affektloses Gebilde auf, anstatt
zum Wehklagen dient er zur ruhigeren, gleichgültigeren Benennung
und kündigt somit den eigentlichen Übergang vom Gefühlsausdrauck
zur darstellenden Sprache an.
papa
Dem Gegensatz des
Mund- und Nasenlautes, also mama-papa folgt der Gegensatz der
Labialen und Dentalen, etwa papa-tata und mama-nana.
Auf die beiden erwähnten konsonantischen Gegensätze folgt
in der Kindersprache der erste vokalische Gegensatz: es wird nämlich
dem breiten Vokal ein enger gegenübergestellt, beispielsweise papa-pipi.
Die folgende Etappe des kindlichen Vokalismus bringt entweder eine Spaltung
des engen Vokals in einen palatalen und velaren, also beispielsweise
papa-pipi-pupu, oder einen dritten, mittleren Öffnungsgrad, z.B.
papa-pipi-pepe.
Jeder dieser beiden
Prozesse führt zu einem System von drei Vokalen, und das ist zugleich
der minimale Vokalismus, welchen die lebendigen Sprachen der Welt aufweisen.
Die erste Spielart dieses minimalen Vokalismus, das sogenannte Grunddreieck,
findet sich in der Kindersprache und gleichfalls in den Völkersprachen
besonders häufig. Im Konsonantensystem, welches m,p und t enthält,
ist p oral im Gegensatz zum nasalen m und gleichzeitig labial im Gegensatz
zum Dentalen t.
So setzt der Erwerb
der Engelaute wie h, ch den der Verschlusslaute m, p in der Kindersprache
voraus, und in den Sprachsystemen der Welt können die ersteren
nicht bestehen, ohne dass auch die letzteren bestehen. Die Fundierung
ist nicht umkehrbar: das Vorhandensein der vorderen Konsonanten (bzw.
ihrer einzelnen Klassen) fordert keineswegs das der hinteren Konsonanten
(bzw. ihrer entsprechenden Einzelklassen). Mit anderen Worten, keine
Sprache hat hintere Konsonanten, ohne entsprechende vordere Konsonanten
zu enthalten. Es kann also auch beispielsweise in der Kindersprache
keine Differenzierung der gerundeten Vokale nach Öffnungsgrad entstehen,
solange der gleiche Gegensatz bei den ungerundeten Vokalen fehlt. Das
Paar u-o kann also nicht dem Paar i-e vorangehen, und es gibt keine
Kinder, die ein o-Phonem besitzen, ohne sich ein e-Phonem angeeignet
zu haben. Sehr oft wird dagegen o bedeutend später als e erworben.
Gegensätze,
welche in den Sprachen der Welt verhältnismässig selten vorkommen,
gehören zu den spätesten lautlichen Erwerbungen des Kindes.
So ist die geographische Verbreitung der Nasalvokale relativ beschränkt,
und demgemäss erscheinen diese Phoneme bei den französischen
Kindern erst nach allen übrigen Vokalen, meistens erst im dritten
Lebensjahr, während die nasalen Konsonanten, wie gesagt, in allen
Sprachen der Welt bestehen und zu den frühesten sprachlichen Erwerbungen
des Kindes gehören.
Der Abbau des sprachlichen
Lautbestandes bei den Aphasischen liefert ein genaues Spiegelbild für
den lautlichen Aufbau der Kindersprache. So ist z.B. die Unterscheidung
der Liquidae r und l eine recht späte Erwerbung der Kindersprache
und einer der frühesten und häufigsten Verluste bei der aphasischen
Lautstörung.
Die gleichen Gesetzmässigkeiten
bestimmen den Aufbau wie den Abbau des individuellen Sprachvermögens
– die Einbusse des primären Wertes setzt diejenige des sekundären
voraus.
Fassen wir Jakobsons
Thesen zusammen:
Der Aufbau schreitet
von einer undifferenzierten Ursprungsform zu einer immer grösseren
Differenzierung und Trennung.
Jeder Sprachlaut
repräsentiert einen Komplex von distinktiven Eigenschaften, und
jede von diesen Eigenschaften fungiert als Glied einer binären
Opposition, welche das entgegengesetzte Glied notwendig impliziert.
Das allgemeine
Gesetz lautet folglich, dass der Begriff des Phonems in keiner Sprache
mit dem der distinktiven Eigenschaft identisch, sondern dieser stets
übergeordnet ist.
Wir lernen daraus,
dass die Differenziationsprozesse, auf denen Sprache und Denken beruhen,
in der menschlichen Physis und in der Physik begründet sind, wir
lernen aber auch, dass Unterscheidungen keine Dinge sind. Wahr – falsch,
gut – böse, schwarz – weiss, rechts – links, aktiv - passiv ....
sind Konnotationen, die wir selber zwar nach Belieben erweitern und
auch fast im Schlaf bestimmten gesellschaftlichen Regionen zuweisen
können, etwa Frauen, Kindern, Juden, Farbigen, Ausländern
usw., die aber eigentlich nicht fest an den Dingen haften, sondern beweglich
sind oder sein sollten, und als binäre Oppositionen eine plastische
Beschaffenheit der Realität garantieren sollten - nicht eine festverdrahtete
Variante.
Wir lernen daraus
auch, dass Denken als Sprache viel tiefer in unsere Bewusstseinsregionen
eingeschrieben ist, als uns selbst Gödels introspektive Metamathematik
vermuten lässt.
Sigmund Freud
beschrieb in seiner "Traumdeutung" (1899)
ahnungsvoll die
sprachliche Struktur der Träume: "Der (manifeste) Trauminhalt ist
gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die
Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar
in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert
anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. Ich habe etwa ein
Bilderrätsel (Rebus) vor mir: ein Haus, auf dessen Dach ein Boot
zu sehen ist, dann ein einzelner Buchstabe, dann eine laufende Figur,
deren Kopf wegapostrophiert ist und dergl. Ich könnte nun in die
Kritik verfallen, diese Zusammenstellung und deren Bestandteile für
unsinnig zu erklären. Ein Boot gehört nicht auf das Dach eines
Hauses, und eine Person ohne Kopf kann nicht laufen; auch ist die Person
grösser als das Haus, und wenn das Ganze eine Landschaft darstellen
soll, so fügen sich die einzelnen Buchstaben nicht ein, die ja
in freier Natur nicht vorkommen. Die richtige Beurteilung des Rebus
ergibt sich offenbar erst dann, wenn ich gegen das Ganze und die Einzelheiten
desselben keine Einsprüche erhebe, sondern mich bemühe, jedes
Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, das nach irgendwelcher
Beziehung durch das Bild darstellbar ist. Die Worte, die sich so zusammenfinden,
sind nicht mehr sinnlos, sondern können den schönsten und
sinnreichsten Dichterspruch ergeben. Ein solches Bilderrätsel ist
nun der Traum, und unsere Vorgänger auf dem Gebiete der Traumdeutung
haben den Fehler begangen, den Rebus als zeichnerische Komposition zu
beurteilen. Als solche erschien er ihnen unsinnig und wertlos."
Freud sieht im Traum
verschiedene Texte auf verschiedene Weise auf verschiedenen Ebenen miteinander
verknüpft. Freud spricht auch sehr oft von "Palimpsest", wo verschiedene
Schichten übereinander gelegt sind. Oder: "Verdrängung ist
Versagung der Übersetzung von einer Niederschrift in eine andere."
50 Jahre später
hat sich Jaques Lacan die Errungenschaften der strukturalen Linguistik
zu eigen gemacht und behauptet wie Freud die ödipale Grundstruktur
des Unbewussten, also das Inzestverbot, das er zugleich als sprachliche
Struktur interpretiert. Beides findet sich bei Freud, explizit als Ödipuskomplex,
implizit in diesen vielen Hinweisen Freuds auf die sprachliche Struktur
des Unbewussten. Und hier setzt Lacan das linguistische Paradigma ein,
nämlich das der unbewussten sprachlichen Strukturen, die sich differentiell
artikulieren. Während aber die Linguisten die Sprache als differentielle
Artikulation sahen, die so den Ausdruck von Gedanken ermöglicht,
also Sinnproduktion durch Differenziation, stellt Lacan dieses Prinzip
auf den Kopf: der Sinn liegt in der differentiellen Artikulation selbst,
oder, wie Lacan sagt,
"jede Bedeutung
verweist auf eine andere Bedeutung"
Im Original liest
sich das so: "Es könne keine Bedeutung geben, die sich anders als
durch die Verweisung auf eine andere Bedeutung erzeugte."
Die Vermutung, dass
unsere Bewusstseinsregionen (einschliesslich des Unbewussten) einer
Sprache gemäss strukturiert sind, lässt sich aber auch in
ganz andere Richtungen weiterdenken. Beispielsweise in Richtung Gehirnforschung
als Erforschung der Intelligenz bzw. der Künstlichen Intelligenz.
Wie könnte
demnach unsere Wahrnehmung funktionieren, die ja mit und durch den Körper
stattfindet. Wahrnehmung als physischer Prozess hat nichts mit Objekten
zu tun und auch nichts mit einer direkten Spiegelung der sogenannten
"äusseren Welt". Wir sehen keine Personen und wir hören keine
Worte,
was wir wahrnehmen,
das sind elektromagnetische Felder, die Muster bilden, verschiedene
Muster, die durch Unterscheidungen, die wir treffen, strukturiert
sind.
"Wie ein Autopilot,
sagt Varela, reagiert das Nervensystem auf die sich verändernde
Umwelt. Es durchläuft Zustände, die einerseits von seiner
eigenen Struktur begrenzt werden und andererseits von der Geschichte
früherer Abläufe von Zuständen, die es in vergangenen
Interaktionen mit der Umwelt erfahren hat." Das Entscheidende dabei
ist, dass aus der Perspektive des Nervensystems die ihm zur Verfügung
stehenden Zustände in keiner Weise eine direkte Spiegelung der
sogenannten "äusseren Welt" sind. Das Nervensystem kennt nur seine
eigenen Bilder, die Bilder, die es hat. Das Mustererkennen und das Musterbilden
des Gehirns beruht auf Differenziation, auf Unterscheidungen, und nun
sind zwar die Möglichkeiten, Unterscheidungen zu machen, grenzenlos
– aber das "Muster" muss dem Gehirn fest eingeprägt sein, sonst
ist es nicht da und kann auch nicht wirksam werden.
Das Mustererkennen
beim Menschen ist ein Prozess, der "gefühlsmässig", d.h. vom
limbischen System, gesteuert wird.
Das limbische
System oder Mittelhirn
ist ein entwicklungsgeschichtlich
älteres "Gehirn", also vor dem Kortex entstanden,
seine Kategorien
sind Hunger und Sex, Angst und Gewalt.
Wenn wir etwas wahrnehmen,
das wir nicht einordnen können, wenn unsere spezielle Wahrnehmung
nicht an das schon vorhandene Muster angepasst werden kann, tritt Angst
auf. Die Angstreaktion wird immer dann ausgelöst, wenn der Organismus
eine Wahrnehmung hat, die nicht zu der Erwartung passt, was er in einer
bestimmten Situation wahrnehmen sollte. Das Gehirn muss also ganz schnell
in der Lage sein, ein passendes Konzept für die Muster zu finden,
die in unserem Wahrnehmungsfeld des Sehens, Hörens etc. auftauchen,
sonst entsteht Angst.
So steuert das limbische
System über den Kortex die Aktionen und Reaktionen unserer Person,
dieser Prozess läuft offensichtlich über mehrere Metaebenen
und folgt einer Kausalität, oder besser gesagt mehreren Kausalitäten,
die ganz sicher nicht homogen sind. Der Akt der Übersetzung
physischer Hardware niedriger Stufe in psychologische Software hoher
Stufe ist möglicherweise analog der Übersetzung zahlentheoretischer
Aussagen in metamathematische Aussagen, womit wir wieder bei Gödel
wären. Wir müssen bei der Erforschung des Beobachters, also
unseres Geistes, offensichtlich verschiedene Arten von Kausalität
zulassen: z.B. die Möglichkeit, dass ein Ereignis andere Ereignisse
auf einer anderen Ebene "verursachen" kann. Manchmal sagt man, Ereignis
A "verursache" Ereignis B einfach aus dem Grund, dass eines eine Übersetzung
des anderen auf einer anderen Beschreibungsebene ist. Manchmal hat "Ursache"
die übliche Bedeutung: physikalische Kausalität. Beide Arten
der Kausalität, und vielleicht noch ein paar andere, müssen
bei der Erklärung des Geistes zugelassen werden, und man wird auch
solche Ursachen zulassen müssen, die sich in der komplexen Hierarchie
des menschlichen Geistes nach oben wie nach unten ausbreiten können.
Descartes hat
im "Traité de l'homme" (1664)
den eigenen Leib
mit einer Uhr verglichen. Wie in dieser alle Bewegungen aus der Anordnung
der Räder und Gewichte folgten, so auch im Körper. Zug und
Gegenzug der Muskeln funktionieren, der Puls tickt dazu – kurz: der
Philosoph ist gesund. Jedoch auch René Descartes wusste, dass
der eigene Leib im Unterschied zu Uhren nass ist. Da gibt es Blut, Schweiss,
Urin und überhaupt Flüssiges aller Art. Deshalb ergänzt
er seine Uhrmaschine durch ein hydraulisches System aus spritzenden
Fontänen, deren Quellmeister seinen Sitz im Hirn habe, genauer
gesagt: in der Zirbeldrüse als dem vermeintlichen Sitz der Seele.
Der chinesische
Philosoph Chuangtse (335 – 275 v.Chr.)
erzählt folgenden
Traum: Ich träumte, ich wäre ein Schmetterling. Jetzt bin
ich aufgewacht und weiss nicht, ob ich ein Mensch bin, der gerade geträumt
hat, er sei ein Schmetterling, oder bin ich ein Schmetterling, der gerade
träumt, dass er ein Mensch ist.
Rainer Werner
Fassbinder hat in seinem Film "Welt am Draht"
eine kleine virtuelle
Welt verfilmt, die übrigens in einem Fernsehstudio stattfindet,
sonst aber der unseren täuschend ähnlich ist. In diesem Film
können wir sehen, wie diese kleinen Identitätseinheiten, also
diese Leute, ihre Welt sehen, wo sie an unverständliche Grenzen
stossen und ob diese sich von unserer Welt unterscheiden. Es gibt Kontaktbeamte,
die zu beiden Welten Zutritt haben.
Haben wir als
denkende Menschen eine Chance, uns irgendwie zur nächsthöheren
Programmierebene Zutritt zu verschaffen, oder sind wir dazu verurteilt,
für immer in der Position Hiobs zu verharren? Ist diese unsere
Welt überhaupt sauber konstruiert oder ist da und dort gepfuscht
worden? Gibt es Magie in dieser Welt, gibt es Singularitäten, ist
Schrödingers Katze tot oder wo lebt Schrödingers Katze?
Vielleicht sollten
wir Schriftsteller uns als Kontaktleute sehen, die sowohl in
unserer grossen Welt leben können oder dürfen, als auch in
den kleinen virtuellen Kunstwelten, die manche von uns in der Literatur
entwerfen. Diese Kunstwelten sind ja nach dem Muster unserer grossen
Welt entworfen, nur eben mit signifikanten Abweichungen, die den kleinen
Bewohnern bzw. uns Lesern dieser Kunstwelten Tips geben, was passiert,
wenn sie das oder das machen, oder dass sie eine Überraschung erleben,
wenn sie an dieser oder jener Stelle nachschauen. Es sind ja manchmal
ziemlich gefährliche Vorstellungen, die da entwickelt werden und
die man eigentlich gar nicht akzeptieren kann. Erinnern wir uns auch
daran, dass die Sprache durch ihr Potential, Objekt- und Metasprachen
auf höchst unreine Weise zu verbinden, viele kleine Welten herzustellen
imstande ist, die vielleicht nicht alle gleich schön sind, aber
in denen Schrödingers Katze zumindest leben kann.
WILDCARDS BIBLIOGRAPHIE
In meinen Ausführungen über
Kurt Gödel folge ich den Quellen Kurt Gödel. Ein
mathematischer Mythos von Werner DePauli-Schimanovich
/ Peter Weibel und
Gödel Escher Bach. Ein Endloses Geflochtenenes
Band von Douglas R. Hofstadter,
den Ausführungen über Roman Jakobson liegt
Jakobsons Buch Kindersprache Aphasie und
allgemeine Lautgesetze zugrunde.
Weitere Wildcards John D. Barrow,
Die Natur der Natur. Heidelberg 1993 Claude Lévi-Strauss,
Der Blick aus der Ferne. Frankfurt 1993 Thomas
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Reise durch die Nacht. Frankfurt 1984 Elfriede
Czurda, Die Giftmörderinnen. Hamburg 1991
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1996 Herbert J. Wimmer, Unsichtbare Filme – ein relativer Roman.
Wien 1997 Frank Miller, Sin City. Hamburg
1995.
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