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Wiener Vorlesungen zur Literatur 

WILDCARDS

I
In meinen beiden Vorlesungen zur Literatur möchte ich mich mit bestimmten Grundvoraussetzungen der literarischen Arbeit befassen. Damit meine ich einerseits ein kulturelles Hintergrundverhalten, wie es uns in der zweiwertigen Logik des Aristoteles vorgegeben ist ... dieses "wahr – falsch" der aristotelischen Logik mit seinen Differenziationen in Richtung Moral, also "gut – schlecht", in Richtung Technik, "ein – aus", in Richtung Soziologie, "männlich – weiblich", in Richtung Wetterbericht, "hoch – tief" usw., und das gesamte Wertesystem, das damit zusammenhängt. 

Von der zweiwertigen Logik, die uns einen riesigen verästelten Entscheidungsbaum zur Verfügung stellt, der uns harte, ja grausame Zwänge aufdrängt, uns aber auch schöne, intelligente und sensible Verfeinerungen anbietet, möchte ich andererseits den grossen Schritt tun zur Erforschung des Beobachters, nämlich den Blick richten auf das Denken, das sich selbst denkt. 

Die Rolle des Beobachters und die sich daraus ergebenden epistemologischen Probleme fallen zuallererst in der Quantenmechanik auf, also in der Interferenz von Beobachter und beobachtetem Objekt. Dann in der Erforschung der Künstlichen Intelligenz, die laufend Turing-Maschinen baut, die vielleicht wie das menschliche Gehirn funktionieren, oder doch nicht? Die Vermischung von Subjekt und Objekt, die in der Metamathematik Kurt Gödels stattfindet. Die Idee Roman Jakobsons, dass sich die Sprache aus einem distinktiven Phonemsystem aufbaut, und die weitreichenden Implikationen dieses Ansatzes für Psychologie & Psychoanalyse. Ist die Literatur die Metasprache der Gesellschaft?

Was die Welt zusammenhält

Harte Zeiten - Weiche Knie
Volle Brüste - Leere Taschen
Heisse Nächte - Kalter Kaffee
Saure Trauben - Süsses Leben
Enge Hosen - Weite Herzen
Teure Heimat - Billige Angebote
Reiche Ernte - Arme Schlucker
Grosse Chancen - Kleine Fische
Dünne Suppe - Dicke Luft
Leichte Mädchen - Schwere Geschütze
Helle Köpfe - Dunkle Geschäfte
Lange Finger - Kurzer Prozess
Alte Lieder - Neue Gesichter
Scharfe Sachen - Milder Wein

(aus: Liesl Ujvary, Sicher & Gut)

Alfred North Whitehead, der zusammen mit Bertrand Russell das Buch "Principia Mathematica" verfasst hat, schrieb in seinem Buch "Science and the Modern World": 

"In jedem Zeitalter wird die allgemeingültige Interpretation der Welt der Dinge von einem System von unangefochtenen und nicht erkannten Vorannahmen kontrolliert und der Geist jedes einzelnen, auch wenn er glaubt, sehr wenig Gemeinsames mit seinen Zeitgenossen zu haben, ist nicht ein abgeschlossener Raum, sondern eher wie ein kontinuierliches Medium, die umgebende Atmosphäre seines Ortes und seiner Zeit."

Dieses Hintergrundverhalten wird meist nicht erkannt, und der Versuch, es zu erkennen, verändert es bereits. Die aristotelische Logik herrscht bis heute und sie formt unser Denken bis in Verästelungen und Einzelheiten hinein, die wir nicht als solche wahrnehmen können. Die heutige Technologie und die Entscheidungsprozesse, die heute unser Leben bestimmen, beruhen alle auf der zweiwertigen Logik. Der Beginn der formalen Logik liegt bei Aristoteles. Allerdings herrschte bis zum Ende des 19. Jhds. ein intuitiver Begriff der Wahrheit, erst Mathematiker wie George Boole, Gottlob Frege und Peano arbeiteten an formalen Begriffen der Beweisbarkeit. Was ist überhaupt ein Beweis? In der Mathematik ist das nämlich nicht so klar. Wichtig ist, festzuhalten, dass Beweise innerhalb fester Systeme von Aussagen operieren. Boole ging mit der Kodifizierung streng deduktiver Denkmuster weit über Aristoteles hinaus, sein Buch nannte er "Die Gesetze des Denkens". 

Die Aussagenlogik nach Boole beruht erstens auf der Negation: "Heute regnet es. Es ist nicht wahr, dass es heute regnet." Zweitens auf der Konjunktion: "Die Sonne scheint und es ist warm." Drittens auf der Disjunktion: "Es ist warm oder es ist kalt." Viertens der Implikation: "Wenn die Sonne scheint, dann ist es warm."

Es geht dabei nicht um inhaltliche Wahrheit, es geht um logische Wahrheit – Tautologien nennt man diese 'immer wahren' logischen Formeln. Die Logik setzt voraus, dass feststeht, ob Aussagen 'wahr' oder 'falsch' sind, woher diese Einsicht stammt, spielt keine Rolle. Tautologien dienen dazu, widerspruchsfreie Axiomensysteme aufzubauen – darin darf keine Formel zugleich mit ihrer Negation beweisbar sein. Gleichgültig, wie umfangreich diese Axiomatik ist, sie impliziert immer die Annahme einer vollständigen Information der Wissensbasis, die sogenannte "Closed World Assumption", einer "geschlossenen Welt" also. Das Programm prüft die Hypothese nur an seinen Axiomen.

Boole war also der Überzeugung, dass sich menschliches Denken vollständig durch zwei Werte beschreiben lässt: wahr oder falsch. Dieses starre Regelsystem beruht auf dem Satz der Identität, dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten: 

Alles ist mit sich selbst identisch und verschieden von anderem. Von zwei Sätzen, von denen einer das Gegenteil des anderen aussagt, muss einer falsch sein. Und: Von zwei sich völlig widersprechenden Aussagen muss eine wahr, eine falsch sein.

Dieses scharfe Instrumentarium bescherte der westlichen Welt, besser gesagt der ganzen Welt, ein herrliches und furchtbares Maschinendenken und Maschinenleben, dessen Fortschritte und Fortschreiten wir miterleben. 

Nun mag uns zwar scheinen, als bestünde unser ganzes Dasein in einem fortwährenden Erleiden dieser in sich gleichartig durchstrukturierten Lebenswelt - dass dem nicht so ist, beweist schon ein Blick auf die überraschenden Resultate der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie, auf die schönen und mutigen logischen Folgerungen, die Kurt Gödel anstellte, auf die weitreichenden Implikationen, die Jakobsons Phonemtheorie für Sprache und Denken, Psyche und Psychoanalyse anbietet. Über Literatur möchte ich hier nicht sprechen, ich werde sie dafür direkt zu Wort kommen lassen.

Was ist ein Paradigmenwechsel? Wie kündigt sich ein Paradigmenwechsel an? 

Thomas Kuhn: "Die Frage ist noch offen, ob solche Umschwünge ganzer Netze von Vorannahmen selten, plötzlich und ziemlich dramatisch geschehen oder ob sie häufig und im stillen stattfinden. Wahrscheinlich trifft beides zu."

Die Quantenmechanik setzt die aristotelische Logik ausser Kraft und sollte deshalb auch die Werthierarchien und die auf ihnen basierenden Rollenbilder aushebeln.

Wir wissen, dass Elementarteilchen, Elektronen etc., je nachdem als Teilchen oder als Welle auftreten, also sie haben zwei Aspekte. Es ist aber unmöglich zu sagen, wann genau ein Elektron als Teilchen oder als Welle auftritt. Es gibt da kein wahr-falsch, kein entweder-oder. Niels Bohr hat das als "Komplementaritätsprinzip" bezeichnet - es gibt nur mehr Wahrscheinlichkeiten. Das lässt sich sehr einfach darstellen, indem man einen Teilchenstrahl, es kann auch ein Lichtstrahl sein, durch zwei Schlitze sendet und dahinter auf eine empfindliche Fläche auftreffen lässt. Wenn das Elektron oder Photon auftrifft, trifft es sozusagen als Teilchen auf, alle auftreffenden Elektronen oder Photonen bilden aber zusammen ein einheitliches Wellenmuster. Woher wissen die einzelnen Elektronen, die durch den einen oder anderen Schlitz gehen, dass sie mit den Elektronen aus dem anderen Schlitz ein einheitliches Wellenmuster bilden sollen, oder können, oder müssen? Die Quantenmechanik macht also die Einführung eines Feldes erforderlich, das mit jedem Teilchen verknüpft ist. So eine einheitliche Feldtheorie, die das beschreiben sollte, gibt es aber noch nicht. Ausserdem zeigt sich, dass bei allen Beobachtungen auf Quantenebene eine Interaktion mit dem Messinstrument stattfindet. Bei jeder Messung ändert sich das Feld abrupt!

Niel Bohr hat das so formuliert: "Es geschieht das, was beobachtet wird, und es wird bestimmt dadurch, wie es beobachtet wird. Darüber hinaus gibt es keine weitere Beschreibung der Realität."

Die theoretische Präzisierung dieses Sachverhalts, nämlich dass das Messinstrument mit der beobachteten Realität interagiert, stammt von Heisenberg und heisst 

Heisenbergsche Unschärferelation

die aussagt, dass es eine inhärente Unbestimmtheit über die Position und den Impuls eines Teilchens gibt in der Weise, dass, je genauer die Position eines Teilchens eingegrenzt wird, desto grösser die Unbestimmtheit des Impulses dieses Teilchens wird. Diese Unsicherheit zeigt sich in der Unmöglichkeit, Position und Impuls gleichzeitig zu messen.

Die Heisenbergsche Unschärferelation hat weitreichende Implikationen, auch für unser Thema, nämlich dass es keine sozusagen "objektive" Beobachtung einer Realität, eines lebenden Systems gibt, der Beobachter ist immer auch Teil des Systems. Und indem wir über ein Problem sprechen, verändern wir es. Das heisst, das es keine (wissenschaftliche) Untersuchung, und sei sie noch so positivistisch, etwa über Aspekte literarischer Rezeption geben kann, die die Situation nicht zugleich verändert. Es bedeutet aber auch, dass man findet, was man sucht. Daher die Aussage - "Das sehe ich erst, wenn ich es glaube", und auch der Satz von Humberto Maturana - "Alles, was gesagt wird, wird von jemandem gesagt." Wenn ein Physiker das in der technischen Hochschule sagt, hat es eine andere Bedeutung, als wenn ich es hier sage.

Es bedeutet aber auch, dass es in der Physik keine "objektive Realität" mehr gibt. Die "objektive Realität" ist verschwunden - das sagen Physiker! An ihre Stelle sind Erscheinungen getreten, die davon abhängen, welche Art von Beobachtung und Wahrnehmung stattfindet. Wir, oder die "Naturwissenschaftler", sind bis jetzt mit dieser Situation nicht fertig geworden, und man hat sich auf etwas geeinigt, das die Physiker die "Kopenhagener Interpretation" nennen und die von Niels Bohr stammt: "Solange wir nicht eine definitive Beobachtung der Welt machen, ist es sinnlos, ihr eine definitive Realität zuzuschreiben." Von den Physikern wird das gerade anders herum aufgefasst, nämlich "dass wir über eine pragmatische Handhabung hinaus nichts wissen können und dass es daher zwecklos ist, darüber nachzudenken." So wird heute gearbeitet, die Quantenmechanik funktioniert, und der Paradigmenwechsel findet halt nur im CERN statt oder in den Instituten, darüber hinaus wird nicht nachgedacht.

Ich möchte dazu noch einen Punkt erwähnen, der sehr interessant ist und völlig ungeklärt, das sogenannte "Bellsche Theorem". Es besagt, dass zwei Teilchen, wenn sie einmal miteinander agiert haben, über weite Entfernungen und lange Zeiten aufeinander bezogen bleiben. Die waren einmal zusammen um einen Atomkern und ein Elektron ist dann ganz weit weg, und wenn man bei dem einen Elektron das Drehmoment, den Spin, ändert, ändert das andere seinen Spin auch. Das ist überhaupt nicht geklärt, das ist ein sogenanntes "nichtlokales" Phänomen, d.h. nicht-kausal, sollte man eigentlich sagen, es fällt heraus aus der Kausalität oder es verweist auf Bereiche, in denen andere Gesetze gelten. 

Der Physiker Paul Davies sagt dazu in seinem Buch "Mehrfachwelten": "Diese Aussagen sind so erschütternd, dass die meisten Wissenschaftler eine Art Doppelleben führen: sie akzeptieren sie im Labor, aber im täglichen Leben lehnen sie sie ohne zu überlegen ab." Paradigmenwechsel vollziehen sich nicht so einfach. Einstein lacht uns von den Plakatwänden entgegen, aber seine Theorien werden praktisch nicht akzeptiert. 

Ein anderer Aspekt der Erforschung des Beobachters war die Idee Kurt Gödels, mathematisches Denken zur Erforschung des mathematischen Denkens selbst zu verwenden. Dieser Einfall, die Mathematik "introspektiv" zu machen, erwies sich als ungeheuer fruchtbar, und seine vielleicht weitestreichende Folge war der nach Gödel benannte Unvollständigkeitssatz.

"Alle widerspruchsfreien axiomatischen Formulierungen der Zahlentheorie enthalten unentscheidbare Aussagen."

Dieser Satz, das ist die Perle, meint Douglas R. Hofstadter. Der Beweis von Gödels Unvollständigkeitssatz beruht darauf, dass man einen selbstbezüglichen mathematischen Satz niederschreibt, ähnlich dem Paradoxon von Epimenides: "Alle Kreter sind Lügner." Oder: "Ich lüge." Oder: "Diese Aussage ist falsch." Oder: "Dieser Satz ist unwahr." Diese Paradoxa sind selbstbezügliche sprachliche Aussagen – während es aber sehr einfach ist, in der Sprache über die Sprache zu reden, ist es in der Mathematik nicht so einfach, mit Zahlen über Zahlentheorie zu sprechen. 

Gödel erkannte, dass eine zahlentheoretische Aussage etwas über eine zahlentheoretische Aussage aussagen kann, wenn man nur irgendwie bewirken könnte, dass Zahlen Aussagen repräsentieren. Mit anderen Worten: das Kernstück seiner Konstruktion ist die Vorstellung von einem Code. Im Gödel-Code – "Gödelisierung" genannt, stehen die Zahlen für Symbole und Symbolfolgen. Auf diese Weise erhält jede Aussage der Zahlentheorie eine Gödel-Nummer, etwa wie eine Telefon- oder Autonummer, mit der sie bezeichnet werden kann. Und ein Kunstgriff des Codierens macht es möglich, dass man zahlentheoretische Sätze auf zwei verschiedenen Ebenen verstehen kann: als zahlentheoretische Aussagen und auch als Aussagen über zahlentheoretische Aussagen.

Gödel wollte damit nicht sagen: diese Aussage ist falsch, sondern

"Für diese zahlentheoretische Aussage gibt es keinen Beweis."

In Gödels Fall ist das feste System zahlentheoretischer Schlüsse, auf diese sich das Wort "Beweis" bezieht, das der "Principia Mathemtica" von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead (1913). Deswegen sollte der Gödel-Satz in seiner umgangssprachlichen Fassung genauer lauten:

"Für diesen Satz der Zahlentheorie gibt es im System der Principia Mathematica keinerlei Beweis."

Oder noch einfacher:

"Dieser Satz ist unbeweisbar."

Vor Gödel fielen Wahrheit und Beweisbarkeit, Falschheit und Widerlegbarkeit, Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit zusammen. Erst Gödel zeigte, dass es inhaltlich erschlossene Wahrheiten gibt, die mit dem Standardregelsystem der Mathematik nicht bewiesen werden können. Insofern ist Wahrheit umfangreicher als Beweisbarkeit: es gibt mehr Wahrheiten als beweisbar sind. Da jedoch die Beweisbarkeit besser intersubjektivierbar und nachvollziehbar ist, können wir auch sagen, dass Wahrheit schwächer als Beweisbarkeit ist, jedenfalls bezogen auf Genauigkeit, Klarheit und Überzeugungskraft.

Kurt Gödel studierte, dachte und arbeitete in Zusammenhang mit dem Wiener Kreis, dem in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Naturwissenschaftler und Philosophen wie Moritz Schlick, Otto Neurath, Fritz Mauthner, Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein angehörten. Vorbild war der Verein "Ernst Mach", dessen Tradition fortgeführt werden sollte. Mach hatte gelehrt, dass die begriffliche Analyse der Widersprüche von Theorien einen Fortschritt in der Naturerkenntnis mit sich bringt. Durch die Explikation und Dekonstruktion der physikalischen Begriffe hat Mach das Feld für die Einsteinsche Relativitätstheorie vorbereitet. Insbesondere seine Kritik der Newtonschen Mechanik mit ihrer Vorstellung der absoluten Zeit, des absoluten Raumes und des invarianten Trägheitsprinzips war von Bedeutung. Sein theoretischer Ansatz beeinflusste auch Künstler, Philosophen und Ökonomen und prägte den Diskurs der Jahrhundertwende. Lenin verfasste seine einzige philosophische Schrift "Materialismus und Empiriokritizismus" (1909) als Kampfschrift gegen die Machsche Denkweise. 

Das vordringliche Anliegen des Wiener Kreises war die Vernichtung der Metaphysik. Wie lässt sich ein wissenschaftlicher Satz von einem metaphysischen abgrenzen? Moritz Schlick forderte die Verifizierbarkeit als Kriterium. Friedrich Waismann meinte: "Kann auf keine Weise angegeben werden, wann ein Satz wahr ist, so hat der Satz überhaupt keinen Sinn: denn der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation." Man wollte alle Wissenschaften auf eine Grundwissenschaft, die Physik, reduzieren. Otto Neurath und Rudolf Carnap forderten, jeder Satz einer beliebigen Sprache müsse in die Sprache der Physik übersetzt werden können. Auch Ludwig Boltzmann war durch seinen Modellbegriff für den Wiener Kreis wichtig – er implizierte die Ansicht, dass unsere Wissenschaft nicht die Natur selbst, sondern nur Modelle der Natur erfasst. Diese Modelle ändern sich je nach unseren Theorien und müssen logisch widerspruchsfrei sein, empirisch überprüfbar, ein Maximum an Information besitzen und denkökonomisch, d.h. minimal redundant sein. 

So zeitgebunden uns diese Ansätze heute scheinen mögen, wenn etwa die Physik als Grundwissenschaft und Beweisbarkeit als oberstes Kriterium gesehen wird, so modern sind sie andererseits durch ihre durchgehende Sprachbezogenheit und den selbstreflexiven Duktus ihrer Denkmuster. 

Ludwig Wittgenstein wandte sein Prinzip 

"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt"

auch auf die Mathematik an. Das hiess, dass die Mathematik sich nur mit solchen Objekten befassen kann, die sich auch in der Sprache der Mathematik formulieren lassen. Implizit wird hier die Möglichkeit der Wahrheitsfindung von mathematischen Sachverhalten mit den sprachlichen Mitteln der Mathematik vorausgesetzt. Wittgenstein trug dazu bei, dass im Wiener Kreis die Sprache als philosophisches Sujet thematisiert und im Sinn einer sprachkritischen Theorie in Frage gestellt wurde. So fand Kurt Gödel im Wiener Kreis eine Denkart vor, die ihn von der formal-logizistischen Auffassung der Sprache wegführte und ihn für eine intuitive Sichtweise und einen sprachkritischen Realismus sensibilisierte.

Gödels Unvollständigkeitssatz ist zugleich Bestandteil der Objektsprache und Bestandteil der Metasprache und widerlegte so Wittgensteins Prinzip, die Grenzen der Sprache seien die Grenzen der Welt. Gödel sah, dass die Tragfähigkeit der Sprache im Sinne formaler Beweisbarkeit ungenügend ist. Die mathematische Welt ist, nach Gödel, vielfältiger und in diesem Sinne stärker als die mathematische Sprache. Die Sprache ist manchmal präziser als das Denken, jedoch zugleich schwächer in dem Sinn, dass ihre Syntax nicht alle Modellvorstellungen nachzuvollziehen gestattet. Das, was bewiesen werden kann in und mit der Sprache, ist weniger als die Wahrheitsfähigkeit des Denkens. Und das wiederum ist weniger und also schwächer als das, was in der Welt möglich ist.

"Sprache" kann keine "exakte Beschreibung" von "Welt" liefern.

Diese drei Bereiche, in denen menschliches Denken stattfindet, durchdringen und berühren sich auf vielfältige und höchst unterschiedliche Weise – es gibt identische homomorphe Bereiche, es gibt Bereiche, die nach mehr oder weniger abweichendem Reglement funktionieren, und sicher auch Bereiche, die kaum etwas oder gar nichts voneinander wissen.

Gödel hat die Labyrinthe der Selbstreflexion mit mathematischen Mitteln aufgezeigt. Er konnte die Wege ins Labyrinth und die Wege aus dem Labyrinth nach rationalen Regeln durchleuchten. 

Gödels "Unvollständigkeitssatz" zeigt aber auch die Grenzen des Computerdenkens und die Grenzen der Künstlichen Intelligenz. Obwohl er ursprünglich aus der mathematischen Logik kommt, hat der Gödelsche Satz heute seine zentrale Bedeutung in der theoretischen Informatik. In beiden Fällen handelt es sich um die Selbstreferenz formaler Systeme.

Gödel glaubt, dass das Gehirn nicht das gesamte Denken erzeugt, sondern dass der Geist eines Menschen mehr ist als dessen Gehirnfunktion. Da die formalen Beweissysteme der Logik eine vollständige Korrespondenz mit den Turing-Maschinen aufweisen, bedeutet das de facto, dass Computer nie alle mathematischen Wahrheiten beweisen können. Es ist aber genauso fragwürdig, ob wir Menschen dazu imstande sind.

Oswald Wiener: "Die Kapazität eines sequentiellen Computers ist mit solchen Programmen, welche die Leistungen der Intelligenz zwar in einem einigermaßen natürlichen Zeitrahmen, aber nur in kleinen Ausschnitten (und vermutlich falsch) illustrieren, ziemlich bald erschöpft. Selbstbeobachtung lässt eine ganz andere Grössenordnung der Parallelität ahnen. Denn selbst das blosse "Haben eines Gegenstands" ist stets von einer inneren Landschaft getragen, die ihn einigermaßen stabil hält und seine für den Augenblick wichtigsten Aspekte profiliert (vergleichbar dem "Hören" der Harmonien beim Erklingen oder sogar beim Vorstellen einer einstimmigen Melodie). Auch der Fokus der Aufmerksamkeit, die wohlbekannte "Enge des Bewusstseins", ist eine enge Weite. Zwar muss das "gedehnte Zeitmoment" des Bewusstseins (Husserls "Zeithof") ein räumlicher Parallelismus sein – jenes das Reden begleitende Wissen z.B., welche Teile des Gedankens im laufenden Satz bereits ausgesprochen sind; oder das Wissen, wie eine gerade laufende Handlung in eine Absicht passt; usw. – aber das unterstreicht nur die Rätselhaftigkeit der empfundenen Dynamik: wie kann ein Vorgang parallel gegeben sein, eine "Gleichzeitigkeit des Nicht-Gleichzeitigen?"

Mit Gödel erfinden wir nicht, sondern wir entdecken!

Die Wirklichkeit ist mehr, als wir darüber aussagen können, aber wir können auch mehr denken, als wir aussagen können. 

Unser Gehirn kann mehr, als uns bewusst ist.

Anders als der Computer ist sich das menschliche Gedächtnis augenblicklich dessen bewusst, was es enthält – und was nicht. Es braucht keine Liste. Wann wurden Sie geboren? Wenn Sie das nicht wissen, wissen Sie, dass Sie es nicht wissen, und dass kein noch so intensives Nachdenken Ihnen das Datum ins Gedächtnis rufen wird.

Kann Gödels Satz in die Psychologie übersezt werden? Können wir uns selbst sehen? Können wir uns selbst verstehen?

Die psychischen Mechanismen müssen sich gleichzeitig mit den inneren Bedürfnissen des einzelnen nach Selbsteinschätzung und dem ständigen, die Ansicht des Ich von sich selbst beeinflussenden Beweisfluss von aussen beschäftigen. Das Ergebnis ist, dass Information in einem komplexen Strudel zwischen verschiedenen Ebenen der Persönlichkeit fliesst. Während sie sich um sich selbst dreht, werden Teile davon vergrössert, reduziert, verneint oder sonst irgendwie verzerrt, und die Teile ihrerseits sind der gleichen Art von Strudel ausgesetzt – immer und immer wieder.

Das Ergebnis ist, dass das Gesamtbild des "Wer bin ich" auf äusserst komplexe Weise in der gesamten geistigen Struktur integriert ist, und in jedem von uns eine grosse Anzahl von ungelösten, vielleicht gar nicht zu lösenden Widersprüchen enthält. Diese liefern einen grossen Teil der dynamischen Spannung, die für uns Menschen so bezeichnend ist.

Was bedeuten alle diese Überlegungen für unser Thema, also für die literarische Arbeit? Erstens sollten wir uns vor Augen halten, dass beispielsweise "die Welt" und "die mathematische Welt" nicht so direkt zu vergleichen sind. Auch "die Sprache" und "die mathematische Sprache" sind nicht einfach gleichzusetzen. Die reinlichen Trennungen, die in der mathematischen Logik möglich und notwendig sind, lassen sich in der Welt bzw. der Sprache nicht vornehmen. Hier ist alles viel schmutziger, noisiger, verrauschter. Diese riesigen Haufen Schmutz und dieses oft ohrenbetäubende Rauschen können aber auch Perlen evolutionärer Tätigkeit beinhalten, das können wir nicht wissen, die Evolution nimmts da nicht so genau. Denken wir nur daran, dass über 80 % unserer DNA sogenannte Junk-DNA ist, d.h. nicht eingeschaltete DNA, die aber da ist, vielleicht als Reservoir für notwendige oder interessante Mutationen. Auch die DNA ist übrigens eine Sprache und auch so aufgebaut.

Was die Literatur mit dem Gödelschen Theorem gemeinsam hat, also wo eine Analogie möglich scheint, ist die Verwendung von Metasprache und Objektsprache im Text. Nur eben – die Objektsprache besteht ja nicht nur aus Objektakkusativ, Konjugationen und Phonemen, vereinfacht ausgedrückt, sondern sie ist selbst ein Kulturprodukt mit vielen Metaelementen aus Literatur & Ideologie, Religion und Wissenschaft, Technik und Technologie. Und die Metasprache ist nicht nur Metasprache in bezug auf die ohnehin schon vieldimensionale Objektsprache, sie ist Metasprache vor allem in bezug auf die Literatur selbst, weil sie sich vor allem auf die Literatur bezieht, ja beziehen muss, auch wenn diese Tatsache vielen Autoren überhaupt nicht oder nur zum Teil bewusst ist. Autoren erzählen Romane und schreiben Erzählungen, weil sie eine Metasprache gar nicht kennen, sondern glauben, sie können mittels der Sprache, so wie sie ist, mit der Welt umgehen. Andere Autoren thematisieren die selbstbezüglichen Aspekte des Schreibens sehr wohl und führen die Leser in ihrer Literatur durch die komplexen Labyrinthe des Denkens.



 
 

II
Während wir die zweiwertige aristotelische Logik als wichtigstes kulturelles Hintergrundverhalten bezeichneten und, als einen ihrer Aspekte, die Formen logischen Schliessens samt der Denkmaschine, die das tut, nämlich unserem Verstand, beobachtet und damit den Beobachter dieser Systematik erforscht haben, ist der andere Aspekt kaum erwähnt und eher links liegen gelassen worden, nämlich die Mechanismen der Differenziation und wie sie unsere Wahrnehmung strukturieren und bereichern.


Überraschende Ähnlichkeiten

ein Gesicht wie ein Bauch
ein Bauch wie ein Gasherd
ein Gasherd wie eine Tulpe
eine Tulpe wie eine Kuh
eine Kuh wie Packpapier
Packpapier wie ein nasses Handtuch
ein nasses Handtuch wie ein Laib Brot
ein Laib Brot wie ein Kuss
ein Kuss wie eine Fichte
eine Fichte wie ein Esslöffel
ein Esslöffel wie ein Ofenrohr
ein Ofenrohr wie eine Träne
eine Träne wie Auspuffgase
Auspuffgase wie Maresi-Alpenmilch
Maresi-Alpenmilch wie rostige Nägel
rostige Nägel wie ein Kopfpolster
ein Kopfpolster wie eine Hose
eine Hose wie ein Sonnenuntergang
ein Sonnenuntergang wie Gummistiefel
Gummistiefel wie Emmentalerkäse
Emmentalerkäse wie ein Schneefeld
ein Schneefeld wie ein Gesicht

(aus: Liesl Ujvary, Sicher & Gut)

Roman Jakobson hat in seiner Schrift

"Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze"

geschrieben auf deutsch, erschienen 1944 in Uppsala, eine exemplarische Darstellung der phonematischen Differenziationsprozesse geliefert, die unsere Sprachentstehung einrichten und gestalten. Er konnte dabei feststellen, dass Differenziation immer von einfach zu kompliziert verläuft, und dass es eine Rangordnung gibt, Hierarchien, die eingehalten werden. Es kann also in einem primitiven Stadium der Differenziation keine Verfeinerungen geben. Und: der Abbau der Sprachfähigkeit erfolgt beim aphasisch Kranken in genau umgekehrter Reihenfolge. 

Den eigentlichen Sprachanfängen, schreibt Jakobson, geht die sogenannte Lallperiode voraus, die bei vielen Kindern eine erstaunliche Menge und Mannigfaltigkeit der erzeugten Laute zum Vorschein bringt. Ein lallendes Kind kann Artikulationen aufhäufen, die sich nie innerhalb einer Sprache oder sogar einer Sprachgruppe zusammenfinden: Konsonanten beliebiger Bildungsstelle, erweicht und gerundet, Zischlaute, Affrikaten, Schnalze, noch kompliziertere Vokale, Diphtonge usw. ... In der Blüte seiner Lallperiode ist das Kind imstande, alle denkbaren Laute zu erzeugen.

Wenn das Kind dann aber wirklich zu sprechen beginnt, beim Übergang vom Vorsprachstadium zum ersten Worterwerb, also zur ersten wirklichen Sprachstufe, verliert das Kind beinahe sein ganzes Lautvermögen. An die Stelle der phonetischen Fülle des Lallens tritt die phonematische Kargheit der ersten Sprachstufen. Die erste kindliche Sprachstufe beginnt mit einem deutlichen Auseinanderhalten und Abgrenzen von Konsonant und Vokal, und derselbe Gegensatz kann auch dann noch vom Aphasischen erkannt werden, wenn die übrigen Lautunterschiede schon aufgegeben sind. Unter dem motorischen Gesichtspunkt sind diese beiden Grundklassen der Sprachlaute als Hemmung und Öffnung einander entgegengesetzt.

Das Optimum der Öffnung wird laut Jakobson im breiten a-Vokal erreicht. Den äussersten Gegensatz zum a-Vokal bilden die Verschlusslaute, und unter den Verschlusslauten sind es wiederum die Lippenlaute, die den ganzen Mundraum sperren.

Zweierlei Unlustentladungen waren dem Kind von jeher vertraut: der Schrei mit vokalartiger, a-ähnlicher Mundöffnung und das nasale Murmeln. Dieses Näseln begleitet die Äusserungen der Unzufriedenheit, das Weinen, die Seufzer.

Und da die Nasalität für das Kind besonders affektbelastet ist, wogegen der Verschluss an sich eher eine Affektschwäche ist, eine Beruhigung anzeigt, so ist es leicht verständlich, dass der Nasalkonsonant im Gegensatz zum oralen reinen Verschlusslaut an der Schwelle der Kindersprache sich als Affektträger betätigt, nämlich als klagender, verlangender, rufender Schmerzlaut und schliesslich als Rufname derjenigen, welche die Affekte des Hungers und der Sehnsucht in erster Linie stillt: der Mutter.

mama

Der orale Verschlusslaut tritt dagegen als affektfreieres bzw. affektloses Gebilde auf, anstatt zum Wehklagen dient er zur ruhigeren, gleichgültigeren Benennung und kündigt somit den eigentlichen Übergang vom Gefühlsausdrauck zur darstellenden Sprache an.

papa

Dem Gegensatz des Mund- und Nasenlautes, also mama-papa folgt der Gegensatz der Labialen und Dentalen, etwa papa-tata und mama-nana. Auf die beiden erwähnten konsonantischen Gegensätze folgt in der Kindersprache der erste vokalische Gegensatz: es wird nämlich dem breiten Vokal ein enger gegenübergestellt, beispielsweise papa-pipi. Die folgende Etappe des kindlichen Vokalismus bringt entweder eine Spaltung des engen Vokals in einen palatalen und velaren, also beispielsweise papa-pipi-pupu, oder einen dritten, mittleren Öffnungsgrad, z.B. papa-pipi-pepe.

Jeder dieser beiden Prozesse führt zu einem System von drei Vokalen, und das ist zugleich der minimale Vokalismus, welchen die lebendigen Sprachen der Welt aufweisen. Die erste Spielart dieses minimalen Vokalismus, das sogenannte Grunddreieck, findet sich in der Kindersprache und gleichfalls in den Völkersprachen besonders häufig. Im Konsonantensystem, welches m,p und t enthält, ist p oral im Gegensatz zum nasalen m und gleichzeitig labial im Gegensatz zum Dentalen t. 

So setzt der Erwerb der Engelaute wie h, ch den der Verschlusslaute m, p in der Kindersprache voraus, und in den Sprachsystemen der Welt können die ersteren nicht bestehen, ohne dass auch die letzteren bestehen. Die Fundierung ist nicht umkehrbar: das Vorhandensein der vorderen Konsonanten (bzw. ihrer einzelnen Klassen) fordert keineswegs das der hinteren Konsonanten (bzw. ihrer entsprechenden Einzelklassen). Mit anderen Worten, keine Sprache hat hintere Konsonanten, ohne entsprechende vordere Konsonanten zu enthalten. Es kann also auch beispielsweise in der Kindersprache keine Differenzierung der gerundeten Vokale nach Öffnungsgrad entstehen, solange der gleiche Gegensatz bei den ungerundeten Vokalen fehlt. Das Paar u-o kann also nicht dem Paar i-e vorangehen, und es gibt keine Kinder, die ein o-Phonem besitzen, ohne sich ein e-Phonem angeeignet zu haben. Sehr oft wird dagegen o bedeutend später als e erworben. 

Gegensätze, welche in den Sprachen der Welt verhältnismässig selten vorkommen, gehören zu den spätesten lautlichen Erwerbungen des Kindes. So ist die geographische Verbreitung der Nasalvokale relativ beschränkt, und demgemäss erscheinen diese Phoneme bei den französischen Kindern erst nach allen übrigen Vokalen, meistens erst im dritten Lebensjahr, während die nasalen Konsonanten, wie gesagt, in allen Sprachen der Welt bestehen und zu den frühesten sprachlichen Erwerbungen des Kindes gehören. 

Der Abbau des sprachlichen Lautbestandes bei den Aphasischen liefert ein genaues Spiegelbild für den lautlichen Aufbau der Kindersprache. So ist z.B. die Unterscheidung der Liquidae r und l eine recht späte Erwerbung der Kindersprache und einer der frühesten und häufigsten Verluste bei der aphasischen Lautstörung.

Die gleichen Gesetzmässigkeiten bestimmen den Aufbau wie den Abbau des individuellen Sprachvermögens – die Einbusse des primären Wertes setzt diejenige des sekundären voraus.

Fassen wir Jakobsons Thesen zusammen:

Der Aufbau schreitet von einer undifferenzierten Ursprungsform zu einer immer grösseren Differenzierung und Trennung.

Jeder Sprachlaut repräsentiert einen Komplex von distinktiven Eigenschaften, und jede von diesen Eigenschaften fungiert als Glied einer binären Opposition, welche das entgegengesetzte Glied notwendig impliziert.

Das allgemeine Gesetz lautet folglich, dass der Begriff des Phonems in keiner Sprache mit dem der distinktiven Eigenschaft identisch, sondern dieser stets übergeordnet ist. 

Wir lernen daraus, dass die Differenziationsprozesse, auf denen Sprache und Denken beruhen, in der menschlichen Physis und in der Physik begründet sind, wir lernen aber auch, dass Unterscheidungen keine Dinge sind. Wahr – falsch, gut – böse, schwarz – weiss, rechts – links, aktiv - passiv .... sind Konnotationen, die wir selber zwar nach Belieben erweitern und auch fast im Schlaf bestimmten gesellschaftlichen Regionen zuweisen können, etwa Frauen, Kindern, Juden, Farbigen, Ausländern usw., die aber eigentlich nicht fest an den Dingen haften, sondern beweglich sind oder sein sollten, und als binäre Oppositionen eine plastische Beschaffenheit der Realität garantieren sollten - nicht eine festverdrahtete Variante.

Wir lernen daraus auch, dass Denken als Sprache viel tiefer in unsere Bewusstseinsregionen eingeschrieben ist, als uns selbst Gödels introspektive Metamathematik vermuten lässt. 

Sigmund Freud beschrieb in seiner "Traumdeutung" (1899)

ahnungsvoll die sprachliche Struktur der Träume: "Der (manifeste) Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rebus) vor mir: ein Haus, auf dessen Dach ein Boot zu sehen ist, dann ein einzelner Buchstabe, dann eine laufende Figur, deren Kopf wegapostrophiert ist und dergl. Ich könnte nun in die Kritik verfallen, diese Zusammenstellung und deren Bestandteile für unsinnig zu erklären. Ein Boot gehört nicht auf das Dach eines Hauses, und eine Person ohne Kopf kann nicht laufen; auch ist die Person grösser als das Haus, und wenn das Ganze eine Landschaft darstellen soll, so fügen sich die einzelnen Buchstaben nicht ein, die ja in freier Natur nicht vorkommen. Die richtige Beurteilung des Rebus ergibt sich offenbar erst dann, wenn ich gegen das Ganze und die Einzelheiten desselben keine Einsprüche erhebe, sondern mich bemühe, jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, das nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist. Die Worte, die sich so zusammenfinden, sind nicht mehr sinnlos, sondern können den schönsten und sinnreichsten Dichterspruch ergeben. Ein solches Bilderrätsel ist nun der Traum, und unsere Vorgänger auf dem Gebiete der Traumdeutung haben den Fehler begangen, den Rebus als zeichnerische Komposition zu beurteilen. Als solche erschien er ihnen unsinnig und wertlos." 

Freud sieht im Traum verschiedene Texte auf verschiedene Weise auf verschiedenen Ebenen miteinander verknüpft. Freud spricht auch sehr oft von "Palimpsest", wo verschiedene Schichten übereinander gelegt sind. Oder: "Verdrängung ist Versagung der Übersetzung von einer Niederschrift in eine andere."

50 Jahre später hat sich Jaques Lacan die Errungenschaften der strukturalen Linguistik zu eigen gemacht und behauptet wie Freud die ödipale Grundstruktur des Unbewussten, also das Inzestverbot, das er zugleich als sprachliche Struktur interpretiert. Beides findet sich bei Freud, explizit als Ödipuskomplex, implizit in diesen vielen Hinweisen Freuds auf die sprachliche Struktur des Unbewussten. Und hier setzt Lacan das linguistische Paradigma ein, nämlich das der unbewussten sprachlichen Strukturen, die sich differentiell artikulieren. Während aber die Linguisten die Sprache als differentielle Artikulation sahen, die so den Ausdruck von Gedanken ermöglicht, also Sinnproduktion durch Differenziation, stellt Lacan dieses Prinzip auf den Kopf: der Sinn liegt in der differentiellen Artikulation selbst, oder, wie Lacan sagt, 

"jede Bedeutung verweist auf eine andere Bedeutung"

Im Original liest sich das so: "Es könne keine Bedeutung geben, die sich anders als durch die Verweisung auf eine andere Bedeutung erzeugte."

Die Vermutung, dass unsere Bewusstseinsregionen (einschliesslich des Unbewussten) einer Sprache gemäss strukturiert sind, lässt sich aber auch in ganz andere Richtungen weiterdenken. Beispielsweise in Richtung Gehirnforschung als Erforschung der Intelligenz bzw. der Künstlichen Intelligenz.

Wie könnte demnach unsere Wahrnehmung funktionieren, die ja mit und durch den Körper stattfindet. Wahrnehmung als physischer Prozess hat nichts mit Objekten zu tun und auch nichts mit einer direkten Spiegelung der sogenannten "äusseren Welt". Wir sehen keine Personen und wir hören keine Worte, 

was wir wahrnehmen, das sind elektromagnetische Felder, die Muster bilden, verschiedene Muster, die durch Unterscheidungen, die wir treffen, strukturiert sind.

"Wie ein Autopilot, sagt Varela, reagiert das Nervensystem auf die sich verändernde Umwelt. Es durchläuft Zustände, die einerseits von seiner eigenen Struktur begrenzt werden und andererseits von der Geschichte früherer Abläufe von Zuständen, die es in vergangenen Interaktionen mit der Umwelt erfahren hat." Das Entscheidende dabei ist, dass aus der Perspektive des Nervensystems die ihm zur Verfügung stehenden Zustände in keiner Weise eine direkte Spiegelung der sogenannten "äusseren Welt" sind. Das Nervensystem kennt nur seine eigenen Bilder, die Bilder, die es hat. Das Mustererkennen und das Musterbilden des Gehirns beruht auf Differenziation, auf Unterscheidungen, und nun sind zwar die Möglichkeiten, Unterscheidungen zu machen, grenzenlos – aber das "Muster" muss dem Gehirn fest eingeprägt sein, sonst ist es nicht da und kann auch nicht wirksam werden.

Das Mustererkennen beim Menschen ist ein Prozess, der "gefühlsmässig", d.h. vom limbischen System, gesteuert wird. 

Das limbische System oder Mittelhirn

ist ein entwicklungsgeschichtlich älteres "Gehirn", also vor dem Kortex entstanden, 

seine Kategorien sind Hunger und Sex, Angst und Gewalt.

Wenn wir etwas wahrnehmen, das wir nicht einordnen können, wenn unsere spezielle Wahrnehmung nicht an das schon vorhandene Muster angepasst werden kann, tritt Angst auf. Die Angstreaktion wird immer dann ausgelöst, wenn der Organismus eine Wahrnehmung hat, die nicht zu der Erwartung passt, was er in einer bestimmten Situation wahrnehmen sollte. Das Gehirn muss also ganz schnell in der Lage sein, ein passendes Konzept für die Muster zu finden, die in unserem Wahrnehmungsfeld des Sehens, Hörens etc. auftauchen, sonst entsteht Angst. 

So steuert das limbische System über den Kortex die Aktionen und Reaktionen unserer Person, dieser Prozess läuft offensichtlich über mehrere Metaebenen und folgt einer Kausalität, oder besser gesagt mehreren Kausalitäten, die ganz sicher nicht homogen sind. Der Akt der Übersetzung physischer Hardware niedriger Stufe in psychologische Software hoher Stufe ist möglicherweise analog der Übersetzung zahlentheoretischer Aussagen in metamathematische Aussagen, womit wir wieder bei Gödel wären. Wir müssen bei der Erforschung des Beobachters, also unseres Geistes, offensichtlich verschiedene Arten von Kausalität zulassen: z.B. die Möglichkeit, dass ein Ereignis andere Ereignisse auf einer anderen Ebene "verursachen" kann. Manchmal sagt man, Ereignis A "verursache" Ereignis B einfach aus dem Grund, dass eines eine Übersetzung des anderen auf einer anderen Beschreibungsebene ist. Manchmal hat "Ursache" die übliche Bedeutung: physikalische Kausalität. Beide Arten der Kausalität, und vielleicht noch ein paar andere, müssen bei der Erklärung des Geistes zugelassen werden, und man wird auch solche Ursachen zulassen müssen, die sich in der komplexen Hierarchie des menschlichen Geistes nach oben wie nach unten ausbreiten können.

Descartes hat im "Traité de l'homme" (1664) 

den eigenen Leib mit einer Uhr verglichen. Wie in dieser alle Bewegungen aus der Anordnung der Räder und Gewichte folgten, so auch im Körper. Zug und Gegenzug der Muskeln funktionieren, der Puls tickt dazu – kurz: der Philosoph ist gesund. Jedoch auch René Descartes wusste, dass der eigene Leib im Unterschied zu Uhren nass ist. Da gibt es Blut, Schweiss, Urin und überhaupt Flüssiges aller Art. Deshalb ergänzt er seine Uhrmaschine durch ein hydraulisches System aus spritzenden Fontänen, deren Quellmeister seinen Sitz im Hirn habe, genauer gesagt: in der Zirbeldrüse als dem vermeintlichen Sitz der Seele.

Der chinesische Philosoph Chuangtse (335 – 275 v.Chr.) 

erzählt folgenden Traum: Ich träumte, ich wäre ein Schmetterling. Jetzt bin ich aufgewacht und weiss nicht, ob ich ein Mensch bin, der gerade geträumt hat, er sei ein Schmetterling, oder bin ich ein Schmetterling, der gerade träumt, dass er ein Mensch ist.

Rainer Werner Fassbinder hat in seinem Film "Welt am Draht" 

eine kleine virtuelle Welt verfilmt, die übrigens in einem Fernsehstudio stattfindet, sonst aber der unseren täuschend ähnlich ist. In diesem Film können wir sehen, wie diese kleinen Identitätseinheiten, also diese Leute, ihre Welt sehen, wo sie an unverständliche Grenzen stossen und ob diese sich von unserer Welt unterscheiden. Es gibt Kontaktbeamte, die zu beiden Welten Zutritt haben. 

Haben wir als denkende Menschen eine Chance, uns irgendwie zur nächsthöheren Programmierebene Zutritt zu verschaffen, oder sind wir dazu verurteilt, für immer in der Position Hiobs zu verharren? Ist diese unsere Welt überhaupt sauber konstruiert oder ist da und dort gepfuscht worden? Gibt es Magie in dieser Welt, gibt es Singularitäten, ist Schrödingers Katze tot oder wo lebt Schrödingers Katze?

Vielleicht sollten wir Schriftsteller uns als Kontaktleute sehen, die sowohl in unserer grossen Welt leben können oder dürfen, als auch in den kleinen virtuellen Kunstwelten, die manche von uns in der Literatur entwerfen. Diese Kunstwelten sind ja nach dem Muster unserer grossen Welt entworfen, nur eben mit signifikanten Abweichungen, die den kleinen Bewohnern bzw. uns Lesern dieser Kunstwelten Tips geben, was passiert, wenn sie das oder das machen, oder dass sie eine Überraschung erleben, wenn sie an dieser oder jener Stelle nachschauen. Es sind ja manchmal ziemlich gefährliche Vorstellungen, die da entwickelt werden und die man eigentlich gar nicht akzeptieren kann. Erinnern wir uns auch daran, dass die Sprache durch ihr Potential, Objekt- und Metasprachen auf höchst unreine Weise zu verbinden, viele kleine Welten herzustellen imstande ist, die vielleicht nicht alle gleich schön sind, aber in denen Schrödingers Katze zumindest leben kann.



WILDCARDS BIBLIOGRAPHIE
 
 

In meinen Ausführungen über Kurt Gödel folge ich den Quellen Kurt Gödel. Ein mathematischer Mythos von Werner DePauli-Schimanovich / Peter Weibel und

Gödel Escher Bach. Ein Endloses Geflochtenenes Band von Douglas R. Hofstadter, den Ausführungen über Roman Jakobson liegt Jakobsons Buch Kindersprache Aphasie und allgemeine Lautgesetze zugrunde.

Weitere Wildcards John D. Barrow, Die Natur der Natur. Heidelberg 1993 Claude Lévi-Strauss, Der Blick aus der Ferne. Frankfurt 1993 Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek 1973 Erwin Schrödinger, Science and the Human Temperament. N.Y. 1935 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Leipzig 1922 Oswald Wiener, Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien New York 1996 Liesl Ujvary, Das reine Gehirn. Wien 1997 Roger Penrose, Computerdenken. Heidelberg 1991 Arkadij und Boris Strugatzki, Picknick am Wegesrand. Frankfurt 1972 Florian Rötzer, Digitale Weltentwürfe. München 1998 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media. Wien 1968 Daniel Clowes, Wie ein samtener Handschuh in eisernen Fesseln. Zürich 1993 Verena Meyer, Gottlob Frege. München 1996 Douglas Coupland, Mikrosklaven. Hamburg 1995 Ilse Kilic, Oskars Moral. Wien 1997 Werner Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik. Reinbek 1955 Georg Eska, Schall & Klang. Wie und was wir hören. Basel 1997 Brigitta Falkner, TobrevierSchreiverbot. Palindrome. Klagenfurt Wien 1996 Gerhard Grössing, Die Information des Subjekts. Wien 1997 Rolf-Dietrich Keil, Gogol. rowohlt bildmonographien 1985 Richard Dawkins, Das egoistische Gen. Oxford 1976  Philip K. Dick, Radio Freies Albemuth. München 1987 Petra Coronato  alias Tongue Tongue Hongkong, Ex.Ex.Maggi. Pneumatische Strategie. Wien 1997 Bodo Hell, Dom Mischabel Hochjoch. Linz 1977 Werner Künzel und Peter Bexte, Maschinendenken / Denkmaschinen. Frankfurt 1996 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 1976 Friederike Mayröcker, Reise durch die Nacht. Frankfurt 1984 Elfriede Czurda, Die Giftmörderinnen. Hamburg 1991 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien. Opladen 1996 Herbert J. Wimmer, Unsichtbare Filme – ein relativer Roman. Wien 1997 Frank Miller, Sin City. Hamburg 1995.

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