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966
Das ist mein Körper. Ich befinde mich gerade an diesem Ort. Ich habe bestimmte Wahrnehmungen, Ideen, Gefühle. Ich tue gerade das und das. Ich bin Verursacher und Kontrolleur meiner Gedanken und Handlungen. Ich rede über mich und denke über mich nach. Ich habe ein Gewissen. Ich bin diejenige, die ich gestern war.

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Die Forschungsarbeit wiederholt, bestätigt und erweitert frühere Erkenntnisse. Als wüsste ich nicht, worauf ich mich einlasse, Das Essen sieht hell und falsch aus. Rings um die Station ist der Boden kahl, das Areal ist brandgerodet und mit langlebigen Herbiziden versetzt. Die Zone erinnert an den leeren Raum zwischen einer Festung und der Aussenmauer, an das Schussfeld. Der verbrannte Boden knistert unter meinen Füssen, die Blätter flüstern im Wind. Das Flusstal ist so üppig wie ein Sommergarten. Sie werden mich zweifellos bei der erstbesten Gelegenheit töten. Die Gärten sind das Paradies: ordentlich, kalkuliert, organisch und präzise. Ein Strohhalm, nach dem ich greifen muss.

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Die Wirklichkeit hasst dich nicht. Aber ihre Intimitäten sind verhängnisvoll. Das hier ist nämlich kein interaktives Programm und auch keine virtuelle Realität ... Reale Brisen spielen mit den Blättern, reale Schatten verfinstern den Waldboden. Und draussen lauert der Tod. Realer Tod. Darauf bin ich trainiert. Du kennst dich mit diesem Sensorium aus, ist das korrekt? Grundsätzlich wachsam bleiben, und die Anzeigen im Auge behalten. Die Waffen sind schrecklich, die Verteidigung genial. Im nassen Halbdunkel bin ich kaum zu sehen. Die Gefahr schreit zum Himmel. Was folgt, ist eine Reorganisation meines Wissens und meines Innenlebens auf eine Weise, für die ich nicht programmiert bin. Ich fürchte mich vor den Einzelheiten.

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Wir sind Soldaten im Krieg. Wir sehen einander sterben. Kühl ist es diese Nacht. Ein Zirrusschleier trübt den Himmel. Diese widersprüchliche Mischung aus Gefühlen: Angst vor der Zukunft und zugleich eine nervöse Hochstimmung, eine süsse Ahnung von Freiheit. Ich bin allein, fröstelnd, nackt in einem Wald, wie ich noch nie einen gesehen habe. Ich klettere aus dem Wasser ans moosbewachsene Ufer. Schwarzes Erdreich polstert meine Füsse. Die Felsbrocken sind mit samtgrünen Kräutern bewachsen. Ich weiss nicht, wie ich hergekommen bin und wie ich heimfinden soll. Mein Herz rast.

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Sie belagern mich. Ich erkenne sie nicht, aber sie mich schon, davon bin ich überzeugt. Ich schliesse die Augen und denke an die Hartnäckigkeit des Lebens, das universelle Bedürfnis zu verschmelzen, sich zu verbinden. Ätzende Substanzen, manche extrem aggressiv und ausgesprochen toxisch. Ich fasse mich an die Nase und betrachte verdutzt die hellrot gefärbten Fingerspitzen. Das also ist der Tod?

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Alarmstufe 1. Ich bin nicht allein im Wald ... aber ich fühle mich allein, besonders nach Mitternacht. Das Alleinsein macht mir keine Angst. Angst machen mir andere Dinge. Die Systeme sind unvollkommen an die Biosphäre angepasst ... der Wind in den Bäumen ... ohne Tiefe, unheimlich. Oh, es ist nichts Physisches. Meine Grenzflächen sind intakt. Der Wald glitzert vom nächtlichen Regen. Das Wasser rinnt von Stufe zu Stufe, aus vollen Blattmulden in überlaufende Blütenkelche. Der leichte Westwind wirbelt Schimmelpilzsporen auf, ein feiner, klebriger Staub. Heute ist der Wald friedlich, keine Raubtiere im Messbereich. Tiefer in die Biosphäre vordringen? Bin ich so tapfer? Ich werde aufpassen.

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Emotionen sind kein Luxus, wir können ohne sie nicht leben. Doch wie lassen sich Emotionen in der Sprache der Neurobiologie beschreiben? Es sind komplizierte Sammlungen chemischer und neuraler Reaktionen, die im Gehirn ausgelöst werden und spezifische Muster bilden. Sie bilden den Zustand des Körpers ab und steuern ihn zugleich. Emotionen benutzen also den Körper als ihren Schauplatz, seine chemischen Prozesse, seine Organe und seine Muskeln. Ihre regulatorischen Tätigkeiten sollen Umstände schaffen, die für das Individuum vorteilhaft sind. Nicht dass es mir schlecht geht. Im Gegenteil. Im Moment fühle ich mich überraschend fit, schreite aus im Sonnenschein und lasse die Arme schwingen, wie ich es seit meiner Kindheit nicht mehr getan habe. Der Pfad folgt einem niedrigen Hügelkamm Richtung Osten. Der Hügelkamm erweitert sich zu einem felsigen Plateau, im Mutterboden zwischen den Felsen sitzen Büschel grüner Pflanzen. Ich rufe den Wetterbericht ab, nichts hat sich geändert seit heute morgen: wolkenlos, windstill.

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Selbes Genom, selber Organismus. Aber es drückt sich radikal anders aus. Reagiert also auf die Umwelt. Mein einziger Rat: Halt die Augen offen. Halt dir den Rücken frei. Man tut, was getan werden muss. Wozu man ausgebildet ist - Ausbildung verdrängt die Panik. Da sind sie! Da sind sie! Die Träume sind furchtbar. Aber Isolation hat viele Gesichter. Bin ich noch dieselbe Person, die ich vor drei Monaten war? Geht es mir nun besser oder geht es mir schlechter? Ich schlafe nicht mehr richtig. Ich bin launisch. Nichts ist sicher. Jeder Tag ist riskant. Die Luft draussen ist frisch und feucht. Aussenlampen flammen auf, blenden mich für einen Moment. Ich atme tief. Drinnen und draussen versagen die Systeme.

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Es ist die Biosphäre, sie entwickelt Strategien. Muss ich hier ersticken? In der Dunkelheit? Einsam und von Panik entkräftet wache ich auf. Bin ich blind? Nein. Andererseits kann ich unmöglich hier bleiben. Keine Nahrung. Kein Wasser. Ressourcen, denke ich. Einen Moment lang halte ich die Luft an und lausche. Bin ich wirklich allein? Ist da etwas? Die Stille ist vollkommen. Vielleicht ist es Tag. Los, es wird Zeit. Was, wenn ich mich in diesem Labyrinth verirre. Ich bin in einem Labyrinth und irgendwo ist der Minotaurus.

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Die Beweise für einen Informationsaustausch zwischen physisch nicht miteinander verbunden lebenden Zellen mehren sich. Ein solcher Mechanismus würde eine Symbiose gestatten ... Im menschlichen Gehirn vermitteln solche Strukturen Bewusstsein, indem sie als Quantenapparate fungieren, wobei praktisch die Unbestimmtheit eines einzelnen Elektrons ausgedehnt und zum zentralen Mechanismus des Wirbeltierbewusstseins wird. Höchste Priorität, was sonst. Wir sind alle verloren, raunt ein Teil von mir. Diese Krankheit ist aber nicht so wie die anderen Infektionen. Nicht so virulent. Gefährlich und hinterhältig, aber potentziell zu beherrschen. Vielleicht muss ich ja nicht sterben. Wildwuchs übermannt den Garten, und die Vernunft schaut machtlos zu. Wir werden alle nur verführt. Lügen in Lügen verpackt, jeder ist beteiligt. Das Schreckliche am Lügen ist, das es zu einem Reflex wird, so automatisch wie der Lidschlag.

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Der Himmel ist jetzt dunkler, der Wald ein schwarzer Korridor. Ich will in erster Linie fort von hier. Die überhitzte Finsternis provoziert Einbildungen. Und wieder stellt sich das triebhafte Verlangen zu fliehen ein. Nein, ich bin hier überhaupt nicht in Sicherheit. Ich bin kontaminiert, aber ich lebe. Man treibt mich nämlich fast unmerklich immer tiefer in dieses unterirdische Labyrinth. Worauf kann ich zur Not verzichten? Sagen wir es mal so – du bist eine lebendige, mit Bewusstsein begabte Entität. Und das sind wir alle. Aber jeder auf seine Weise. Das Leben ist flexibel und anpassungsfähig. Bewusstsein entsteht ... naja, fast überall. Du bist eben allein und verwahrlost. Halt die Ohren steif. Es dauert nicht mehr lange… Über der weiten Steppe im Westen bricht die Nacht herein. Die Verbindung ist abgerissen, tot. Aber habe ich es denn nicht geahnt? Dass alles so schrecklich falsch war, die ganze Quälerei und das Schweigen und die Feindseligkeit, falsch, falsch.

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Der schreiende Mund, als Symbol für Schmerz und Leid, die zwitterartige Figur, die sich nicht einordnen lässt, die Verwendung von Käfig oder Thron, um die Figur zu isolieren. In den Labyrinthen findet sich keine Ordnung. In ihnen gibt es verderbliche Wege und glückliche, Finsternisse, das Durcheinander schrecklicher Umwege, Kreisbahnen und Irrwege. Wenn Reisende sich im Wald verirren, so gibt es nur eine Methode oder Strategie, zum Ausgang zu kommen, und das ist: überhaupt eine Methode oder Strategie zu haben. Die Tiere heissen Hund, Maus, Ratte. Der Mensch hat einen weissen Kittel an und verwaltet ein Labor. Der Automat lernt.

1039
Die Machtstruktur ist einfach eine andere. Ich starre in ein simuliertes Fenster, das sich auf die raue sibirische Steppe öffnet. Beim Anblick des windgepeitschten Eises bin ich froh, nicht im Freien zu sein. Ich bahne mir meinen Weg, unsicher wie ein Kind in der Dunkelheit. Die Hitze und der Geruch sind exotisch. Ausser mir ist hier niemand. Sie befinden sich in einer toten Zone. Sie durchschreiten jede Tür auf eigene Gefahr. So etwas ist mir noch nie passiert. Ich habe noch nicht einmal eine Theorie, um es zu erklären. Als könne ich die Körpersprache der Menschen lesen und allem, was sie tun, Informationen entnehmen. Ich weiss, was sie wirklich empfinden. Es ist, als könne man Gedanken lesen. In die geistige Intimsphäre anderer Menschen eindringen. Ich empfinde das Gleiche! Es ist furchterregend.

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Man erlebt Augenblicke verzerrter Freude und weite Flächen gleichförmigen, langweiligen, normalen Lebens. Du kannst immer noch zurück. Du könntest auch natürlich versuchen, Helfer anzuwerben. Aber damit riskieren wir nur das Leben anderer. Die Sache ist zu heiss, um Fehler zu begehen. Du kannst Menschen in den Tod schicken. Aber du kannst niemandem trauen. Zäh, hart, wild. Ich lege mich auf nichts fest.

1041
Man kann etwas ausprobieren und sieht, ob man recht hat. Man kann kartieren und Bilder anfertigen von dem, was tatsächlich in einem Gehirn abläuft, und die Daten analysieren. Diese Methode ist fest in der wirklichen Welt verankert. In der Alltagswelt ist eine Karte die zweidimensionale Darstellung einer dreidimensionalen Wirklichkeit. In einem Bewusstsein gibt es erheblich mehr als drei Dimensionen, die zu berücksichtigen sind. Das menschliche Bewusstsein organisiert seine Idee um eine Ballung von skalierten Achsen in einem theoretisch n- dimensionalen Raum. Diese Achsen sind ausnahmslos bipolar, wie etwa die Skala für Grösse, die zwei gegensätzliche Extreme aufweist: Klein und Gross. Andere Extreme sind Gut und Böse, Hart und Weich, Warm und Kalt, Lebendig und Leblos. Jedes Bewusstsein besitzt einen einzigartigen Hyperkubus. Er enthält all seine Glaubensvorstellungen über sich selbst und die Welt. Der Hyperkubus ist die Identität des Individuums und die übergeordnete Karte, durch die es sein Leben steuert. Unendliche Organisation und Anpassung, die jede Zelle betreffen. Schreckliche Lektüre.

1042
Glaubt die Regierung wirklich, sie könne Ideen senden wie Fernsehprogramme und jeden damit säuberlich in eine grosse, organisierte Gruppe eingliedern? Menschen, die nicht sagen können, was mit ihnen plötzlich nicht stimmt ... einige werde depressiv, andere erleiden kleinere Gedächtnislücken, einige geraten psychisch so durcheinander, dass sie völlig unberechenbar und gefährlich werden. Diese Version wird mich vermutlich nicht umbringen, dazu fehlt ihr die Rechenleistung. Ihre Welt besteht einzig aus erbärmlichen, falsch verstandenen, schlecht verarbeiteten und mit tröstlichen Selbsttäuschungen versehenen Wissenfetzen.

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Wörter. Ich wünschte, aus direkten Erfahrungen würden Wörter, doch mein Wunsch bewirkt nichts. Immerhin, der Verstand bezieht Informationen aus weit mehr Dingen als nur Wörtern, und alle Wege sind nützlich. Vielleicht ist es nur der Stress. Kann Stress Menschen in den Wahnsinn treiben? Ich schlage die Augen auf und blicke aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen.

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Diese Wahlmöglichkeiten ... Welche Möglichkeiten hat man und wer trifft die Entscheidungen? Angenommen, man wird von einem dogmatischen System befallen, das keine Wahl bietet – was würde einen veranlassen, etwas zu unternehmen, um diese Welt wieder zu ändern? Das würde doch gegen alle Glaubensgrundsätze verstossen ... das wäre undenkbar. Mit einem Schritt sitzt man in seinem eigenen Gefängnis fest, mit sich selbst als Wächter. Ich knirsche mit den Zähnen ... nach Überprüfung aller Daten stehe ich ohne Endergebnis da. Nur Grundrauschen. Ich zwinge mich, reglos liegen zu bleiben, und zähle die Sekunden. Ich atme mit der Selbstbeherrschung eines gehetzten Tieres, das sich nicht verraten will. Ich fürchte mich. Diese Furcht ist eine Erleichterung. Endlich ist sie gekommen. Das Entsetzen, bei dem die Knie weich werden und jeder Wille und alle Entschlusskraft verschwindet. Es handelt sich um einen militärischen Waffenfeldtest, das Ergebnis eines geheimen Forschungsprojekts. Ich weiss es auch nicht. Eigentlich eine dumme Kinderfantasie. Ich schäme mich dafür.

1045
Sie ist die intelligenteste ... Sie denkt schneller, sie besitzt Zugriff auf ein Wissen, das sonst niemand zur Verfügung steht. Was das Programm betrifft, ich habe an vieles gedacht. Mein Programm darf keiner Person je gestatten, sich einer anderen Person überlegen zu fühlen. Die objektive Sicht gibt es nicht, von nirgendwoher. Irgendeine Welt-Karte muss man haben, zu jedem einzelnen Zeitpunkt. Und die Karte wird immer eine Näherung sein. Zusammen mit vielen anderen Standardkonzepten, die frei verfügbar sein werden. Natürlich ist dieser Bericht lächerlich und erklärt gar nichts. Was hat sie getan? Worauf warte ich hier? Das Projekt ist beendet ... ein nervöses Lachen erhebt sich in der Runde. Sie geht ins Kontrollzentrum, arbeitet eifrig, startet Geräte, gibt Befehle ein. Ich bringe einiges in Ordnung. Ob es etwas nützt, kann man nur raten. Ich habe ein Programm geschrieben, dass die Furcht verwalten wird, so dass hasserfüllte, gewalttätige Reaktionen eingedämmt werden. Massenpanik wird keine ausgelöst. Akzeptanz als Standardreaktion ist bereits eingebaut ... es klingt wie eine Autoreklame.

1046
Ich rieche die feuchte Erde und spüre die Wärme der untergehenden Sonne. Beide versprechen eine verregnete Nacht, wuchernde Pilze, fallende Blätter, den Beginn von Fäulnis und Verfall. In mir läuft ein Kampf ab, ein Kampf zwischen unvereinbaren Impulsen. Materie ist nur mit Information beladene Energie, und Identität ist nichts anderes als Information. Einige Informationen durch andere zu ersetzen, erweist sich als Kinderspiel. Du folgst der Strasse, geniesst die frische Luft. Ist die Psyche wirklich ein Reflex des Körpers? Gewalt ist eine Option, die jedem Menschen jederzeit offen steht. Zu viel rotes Pixelblut ist unreal. Sie ist im Grunde eine menschliche Maschine. Man hat sie gezüchtet und für ihre Arbeit konditioniert. Ihre Bioregulation ist ungemein präzise. Das Licht in meinen Träumen ist grell. Ich bin jetzt endlich vor Ort. Nun wünsche ich mir den direkten Blick. Das Fenster ist ein willkommener Effekt. Kalkuliert selbstverständlich. Und alles tödlich. Meine neue Heimat.

967
Ein komplexes, nicht-triviales System wie „Gesellschaft“ ist prinzipiell nicht voraussagbar. Denn nach jedem Geschehen ist es ein anderes System! Darin liegt der fundamentale Unterschied zu trivialen Dingen, bei denen man von Anfang an schon weiss, was am Ende dabei herauskommen wird. Wenn ich auf das Gaspedal trete, dann fährt das Auto schneller. Wenn ich eine Eintrittskarte kaufe, darf ich ins Kino hinein. Und so weiter, in beruhigender Trivialität. Die triviale Maschine mit ihrer Zuverlässigkeit und Voraussagbarkeit mutet im Vergleich zur unbeständigen, unvoraussagbaren und nicht analysierbaren nicht-trivialen Maschine wie ein Geschenk des Paradieses an. Wir sind in triviale Systeme vernarrt. Und wann immer die Dinge nicht funktionieren, wie man es erwartet, werden wir versuchen, sie zu trivialisieren: erst dann werden sie berechenbar und voraussagbar.

1017
Komm, gehen wir in den Wald, da ist die Luft sauberer. Geld, Politik, Tagesgeschehen, Gärtnern, Hausarbeit, Wäschewaschen. Wird es dadurch wahr, dass man darüber redet? Haben sie auf diese Weise alles erschaffen? Sie sprechen mit einer Überzeugung, die durch sicheres Wissen entsteht. Sie vergessen, wie zerbrechlich die Wirklichkeit ist, je älter sie werden. Dann sind sie in Sicherheit. Dann vertrauen sie ihren eigenen Geschichten völlig, und grenzenloses Vertrauen bedeutet eine unübertreffliche Schutzmagie. Aber ich kenne die Wahrheit, und wie kann ich vorgeben, sicher zu sein, wenn ich die Wahrheit kenne? Dass die sichere Welt ein Netz aus Lügen ist, unter denen die gemiedene Wirklichkeit wartet. Es dauert nicht lange, und ich muss wieder verschwinden. Auf allen Seiten bleiben mir die Türen verschlossen. Die Menschen sprechen nicht mit mir.

1018
Die Struktur des Gehirns entspringt der Triebkraft, die unser Leben beherrscht. Wir nehmen Physiologie und Psychologie und verknüpfen sie mit Memetik. Wir werden von der Idee des Fortschritts und der Entwicklung gesteuert, und dieser Memeplex, eine Artikulation des Überlebenstriebs, hält uns alle versklavt: Was wir ändern können, das ändern wir auch. Was uns in die Hände fällt, das benutzen wir. Was wir sehen, behaupten wir zu verstehen. Wenn wir Recht haben, werden wir erlöst. Wenn wir gut sind, werden wir erlöst. Wenn dies oder jenes zutrifft, werden wir erlöst. Was ist der Unterschied?

1019
Verrostete Maschinen, liegengebliebene Traktoren, eingesunkene Bauernhäuser, Dachziegel, Alteisen, Elektrokabel, Bruchstein, Kinderspielzeug, Plastikabfälle. Ein tiefer Atemzug ist ein reinigender Atemzug. Meine Arbeit ist für sie nichts als abergläubischer, gefährlicher Blödsinn, der auf unwissenschaftlichen, nicht repräsentativen Daten beruht. Amen. Hast du schon mal erlebt, dass du dich wirklich bemühst, jemandem klar zu machen, was in dir vorgeht, und du wirst trotzdem nicht verstanden? Egal, um was es geht ... Und was werde ich als nächstes hören? Einen unvermittelten Schrei, ein Wimmern, eine Schimpfkanonade, unverhohlene sexuelle Gelüste, oder in allen Einzelheiten geschilderte Verstümmelungen, die in einem entsetzlichen Tod gipfeln. Oder Angstfantasien. Oder Verzweiflung.

1020
Selbstware ist reine Theorie. Sogar beim Militär leiden die Leute unter Depressionen ... Was bist du für eine Idiotin. Wie kannst du da vor mir sitzen und mir etwas vorspielen, wenn eine miese, unbrauchbare, fehlerhafte Version bereits in der wirklichen Welt ausprobiert wird? Noch ist es kein Befehlscode. So viel Unbekanntes, so viele plötzliche, hässliche Fallen tun sich auf: Sie lügt, sie ist ein Lockspitzel, eine Doppelagentin, sie soll mich auf die Probe stellen – oder sie sagt die Wahrheit. Du hast das Ding gestohlen. Woher hast du es? Es muss mit der ganzen Sache zusammenhängen. Zufällig arbeite ich auf genau denselben Feldern: technische Durchbrüche, soziale Anpassung und Perfektionierung. Zu spät, um heimzukehren. Ich verabscheue meine Situation. Ich werde das Gefühl nicht los, billig und schmutzig zu sein. Ich weiss, dass es zu spät ist. Die Gefühlszentren schotten sich fast bis zur Empfindungslosigkeit ab. Dann beginnt das Programm all das zu verbinden und anzuregen, was beim Menschen subtil den Geist verfinstert. Es bringt jeden Menschen dazu, sein Haus niederzubrennen oder sich zu erschiessen, nur um der plötzlichen Spirale des Elends und Wahnsinns zu entkommen. Nur 50 Zeilen, brutal, knapp, deutlich.

1121
Sehr langsam erwache ich aus meinem Erschöpfungsschlaf, der mir mehr wie ein Blackout vorkommt. Wiederholt werfen mich Wellen der Bewusstlosigkeit aus der Gegenwart meines Zimmers. Dazwischen erlebe ich Momente, in denen ich nahezu wach bin. Stunden vergehen im Flimmern meines Geistes.

1122
Du weißt schon – es bedeutet, dass wir die greifbare Welt der chemischen Substanzen und elektrischen Vorgänge und die nichtphysische Welt der Geistesprozesse miteinander in Beziehung gesetzt haben. Der heilige Gral. Die Grundlage, auf der man eine wirklich funktionierende Theorie des Bewusstseins erstellen kann. Die Karte der physischen Ereignisse und die Karte der geistigen Ereignisse. Phase Eins und Zwei sind nun vernünftig querverknüpft. In diesem Kopf leuchtet immer reines und messerscharfes Licht.

1126
Ich schreibe an der memetischen Ebene, der Ebene der Konzepte. Und an der Mustererkennung. Die greifbare Seite der Gedanken. Das ist mein Gebiet. Das Interface teilt mir mit, was die Versuchsperson empfindet. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Meine Zweifel verschwinden. Ich kenne ihn von Menschen, die ansetzen, etwas zu enthüllen, was sie lange verborgen gehalten haben. Ist das eine Wetterkarte? Die Linien kreuzen sich niemals. Es sind Isobaren, Tiefdruck- und Hochdruckgebiete, Warmwetterfronten, Okklusionen, Sturmfronten – und zwar psychische. Traurigkeit ist Tiefdruck, Liebe ist Hochdruck. Andere Gefühle, wie Aggressionen, bilden kompliziertere Figuren.

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Die Männer halten sich gerade und bewegungslos. Das ist die interessante Stelle ... und das ist unter Testbedingungen. Es ist Teil meiner Forschungsarbeit über das menschliche Bewusstsein. Ein Teil dieses Programms, ein sehr kleiner Teil, verknüpft spezifische datenverarbeitende Bereiche miteinander. Synästhesie, vielleicht auch Schlimmeres. Meine Arbeit verlangt nach Genauigkeit. Ich bin ja auch keine Idiotin. Ich meine, wenn man das Projekt in Zusammenhang mit der Welt sieht, wie wir sie kennen, ist natürlich etwas falsch. Menschliches Verhalten lässt sich in eine sehr genaue Modellvorstellung setzen, besonders wenn man von grossen Menschenmengen spricht und nicht von Einzelpersonen. Jeder von uns ist ein Unikat und entwickelt sich unaufhörlich längs eines Erzählstrangs, der uns aussucht, so wie wir einst ihn aussuchten, ohne es zu ahnen.

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Scheint, dass du recht hast. Wir schaffen ein Werkzeug, das zur totalen Unterdrückung missbraucht werden kann. Wir benutzen einfach Emotionsumleitungsprogramme. Du treibst ein Spiel mit mir. Ich entscheide mich für Aufrichtigkeit. Die Informationen stimmen nicht mit dem überein, was ich für wahr halten kann. Du kannst nicht zweierlei zugleich sein, du kannst nur auf eine Weise in der Welt leben.

1129
Die Therapie ist in gewisser Weise geheim und unerprobt, und wenn du sie erprobst, bist du ein Pionier. Natürlich habe ich ja gesagt, was bleibt mir für eine Wahl? Jetzt aber kriecht die Furcht in mir hoch. Ich will das Experiment doch lieber nicht mitmachen. Was, wenn ich nicht durchkomme? Was, wenn nachher alles wie dieses rattenfarbige Nichts aussieht? Man zeigt mir einfache Videobilder. Ein Stuhl ist ein Stuhl, aber ein Hund ... Das ist eine Echtzeitkarte meines Gehirns. Die geschädigten Bereiche sind als weisse Zonen dargestellt.

1140
Ich erwache langsam. Ich halte die Augen geschlossen und atme, so flach ich kann. Ich spüre, dass ich auf einer Art dünnen Matratze liege ... trübes Licht dringt durch meine Lider. Wie in einem Puzzlespiel. Ja. Ich habe deinen Bericht gelesen. Brutaler Break.

1130
Ich glaube keineswegs an eine Theorie des Quantenbewusstseins – sieht man einmal von der Feststellung ab, dass das Bewusstsein per se von Quantenvorgängen beeinflusst wird, da die materielle Welt zur Gänze aus Quanten besteht. Wie wärs mit willkürlicher Kontrolle der Körperchemie? Gibt dem Wort Selbsthilfe eine ganz neue Bedeutung. Wieder so ein Technoporno. Lass mich dir helfen. Mein Mädchen. Ich versuche es auf eigene Faust zu erledigen. Um Geld kann es nicht gehen. Ich kapier es nicht. Erneut habe ich das Gefühl, an einem Scheideweg zu stehen. Ich spüre, dass ich in etwas hineinlaufe, aus dem es keinen Ausweg gibt – was ich auch unternehme, es führt zu einem Alptraum, einer Katastrophe.

1131
Die Bilder des Zwischenfalls sind möglicherweise beschönigt. Der hysterische Begleittext lässt diesen Schluss allerdings kaum zu. Was ist denn neurale Kommunikation eigentlich? Ich liege auf dem Bett, starre an die Decke und atme. In meinem Kopf aber überschlagen sich die Gedanken mit irrwitziger Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit ist die einzige Empfindung, die ich habe, stark und mächtig wie ein Fluss, unaufhaltsam wie ein Dammbruch. In dieser Sintflut bleibt kein Raum für eine Identität. Es sind Karten meiner inneren Einsamkeit, Geschichten von dem, was ich denke. Das hier heisst: Verpisst euch! Das hier ist: Macht sofort die Tür auf, Drecksäcke. Und das hier: Ich zahle es euch allen heim, verlasst euch drauf. Kann das Band eine Fälschung sein? Nein, alle Systeme sind aktiviert.

1132
Ich habe vermutlich eine wie immer geartete Querkontamination erlitten. Verborgener Drache. Nicht handeln. Das und nichts anderes ist es.

1134
Ich selbst bin eine Geschichte, ein Konstrukt aus Gründen und Zusammenhängen und Ideen, zusammengehalten von erzählerischen Verknüpfungen, die zu glauben ich mich entschieden habe. Was, wenn keine davon der Wahrheit entspricht? Selbstverständlich sind diese Programme nicht die einzigen, die sich nun im Umlauf befinden. Warum auf die Vervollkommnung warten, wenn rasch zusammengehackter Ramsch es auch tut? Es ist Wahnsinn, und ohne Zweifel gibt es noch mehr primitive Befehle: Zuhören und Gehorchen, Vergessen ... Gedächtnislöschung ist sehr einfach.

1135
Meine Reaktionen sind beschleunigt, die Hirnhälften sind präzise balanciert und wechseln sich in der Dominanz ab. Meine Erinnerungen sind schärfer. Es ist eine Erprobung. Sie wollen sehen, ob es bei jedem funktioniert. Ich brauche etwas. Ich muss leben. Mir fällt nichts ein, was man sonst noch tun könnte. Hier bin ich und lebe auf meine Art ... ohne Familie, ohne Bindungen. Bemitleidet nicht mich, sondern euch selbst. Ihr habt noch einen weiten Weg vor euch. Das System hat mich intelligenter gemacht oder sowas, das vor allem. Ich habe sehr wenig Handlungsspielraum. Ich fühle mich für die Situation nicht verantwortlich. Hier sind Kräfte am Werk, die weit ausserhalb meiner Kontrolle liegen. Ich weiss, dass ich mir keinen Fehler erlauben darf, und darum begehe ich keinen. Zu wissen, was zu tun ist, und es auszuführen, ist eine mühelose, geschmeidige Abfolge, die mir ohne Hast gelingt.

1133
Plötzlich fallen die dicksten Mauern. Alles wird unsicher. Was sind Antiquarks, was sind Gluonen? Wieso spüren wir davon nichts? Mit wem kann ich reden? Was, wenn es nicht funktioniert?

1136
Keinen Streit. Wir sind doch keine Kinder. Die Versuche müssen sein. Und dann werden wir endlich den Punkt erreichen, an dem uns funktionstüchtige Systeme zur Verfügung stehen. Wir sind uns alle über die Auswirkungen im Klaren. Es erscheint verdammt ideal. Ich weiss, dass das Verfahren funktioniert. Auch wenn den Leuten ihre Anweisungen nicht gefallen, sie begehren nicht dagegen auf, sondern müssen sie befolgen. Sie fühlen sich erbärmlich, aber sie verrichten ihre Aufgabe – sie deuten ihre Gründe neu und halten, was sie getan haben, für ihre eigene Entscheidung. Einfach brilliant, dieses Verfahren. Menschen, in deren Köpfen sich gewaltige Widersprüche breitmachen, können ihre Persönlichkeit erfolgreich fragmentieren, um höhere Effizienz zu erzielen. Sie können alles schaffen.

1137
Mich schaudert, und ich glaube, Schnee zu riechen, aber das ist Einbildung. Die Kamerabilder wirken unmöglich, und doch gibt es keinen Beweis für Manipulation. Menschen sind animalische Wesen, die auf dem klassischen newtonschen Niveau leben, ihre Sinnes- und Denkstrukturen arbeiten innerhalb eines sehr kleinen Ausschnitts des Informations-Hyperkubus. Menschen haben auf einer bewussten Ebene nicht einmal Kontakt mit der Realität. Ihre gesamte Wahrnehmung, ihre Karte der Welt, die sie umgibt, ist ein Produkt des Gehirns, das ihnen erst erlaubt, erfolgreich in einer komplexen Umgebung zu leben. Bewusstsein? Bewusstsein ist das an die Oberfläche tretende Ergebnis einer komplexen Reihe diskreter Vorgänge im Gehirn. Erst Sekundenbruchteile, nachdem das Unterbewusstsein seine Entscheidungen getroffen und seine Reaktionen eingeleitet hat, entsteht das Bewusstsein als Ereignisbericht. Das ist ein makroskopischer Vorgang.

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