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Rezension zu Liesl Ujvary "Das Wort Ich" ( Klever Verlag 2011 )
Der Standard , 5. 11. 2011 , Album , S. A9

 

Liesl Ujvary (Jahrgang 1939) ist eine Schriftstellerin, die fotografiert. Sie interessiert sich für Arten und Gruppen, insbesondere auch für die Kollegenschaft. 1983 hat sie Porträts neben Aufnahmen von heimischen Drogenpflanzen gestellt, das Lächeln einer Frau erschien neben dem Bilsenkraut, die verwischt festgehaltene Kopfbewegung neben den im Wind sich bewegenden und deshalb leicht unscharf wiedergegebenen Stengeln und Blättern. Eines der Modelle damals war Neda Bei, und auch bei dem aktuellen Projekt „privatsachen“ im Literaturhaus (11.11. – 19.12.2008) begegnet uns die Verfasserin von phantasievollen Anagrammgedichten wieder. Nun aber tritt sie anders auf: nicht mit ihrem Gesicht und geschlossenen Augen, sondern vermittelt über die Dinge, denen sie sich in ihrer Wohnung, an ihrem Arbeitsplatz gegenüber sieht.

Liesl Ujvary: Neda Bei, o.J. (aus: Liesl Ujvary, Menschen & Pflanzen Porträts, Ausstellungskatalog Forum Stadtpark, Graz, Wien: Selbstverlag, 1983, o.S.) Liesl Ujvary: "neda bei", ohne Jahr (aus: liesl ujvary, privatsachen. Fotos 2006 - 2008, Wien: Selbstverlag, 2008, o.S.)
In den vergangenen drei Jahren hat Ujvary Künstlerinnen und Künstler, Autoren und Autorinnen in ihren privaten Domizilen besucht. Sie hat auf die Schreibtische und darunter geblickt, auf die Bords darüber und die Stellagen daneben. Vorgefunden hat sie Schreibmaschinen, Notizzettel, Zeitungen, Bücher, Kopierer, Stifte, CDs, Tonbänder, Lampen, Kochtöpfe, Fotos an den Wänden, Stofftiere, Lautsprecher und anderes mehr. Mit der Kamera ist sie so nahe gegangen, dass jede Einzelheit scharf abgebildet, aber kein Überblick möglich ist. Man kann nicht von den Kleinigkeiten auf das große Ganze schließen. Der empirische Blick wird ebenso zurückgewiesen wie jener, der in den Dingen die Verfassung der Besitzer erkunden möchte. Es sind intime Situationen, eine wie die andere, jede für sich eine besondere und doch sich gleichend. Aus der Nähe betrachtet und nebeneinander gestellt offenbaren sich das Ähnliche (der Sorte) wie das Unterschiedliche (des Individuellen). Zu 21 Personen sind jeweils fünf Farbabzüge in den Maßen von 18 x 24 cm sowie eine kurze Biografie und ein Zitat aus dem Werk zu einem Tableau zusammengefasst. Begleitet wird die Ausstellung, die zum mehrmaligen Durchsehen animiert, von einem Katalog, der zurückhaltend angelegt ist und sich gut von vorne nach hinten wie auch umgekehrt durchblättern lässt. Bis der Betrachter die Ordnung und Unordnung in den eigenen vier Wänden erkennen mag.
in: http://www.timm-starl.at/fotokritik-text-39.htm

 

Steve’s click picks #37

Our regular listen to and look at living, breathing composers and performers that you may not know yet, but I know you should... And can, right here and now, with so much good listening online.
Time to leave our standard classical composers and performers behind for a second, to hear what the writers can do:
Liesl Ujvary - Ann Cotten - Hanno Millesi (Austria): "Ghostengine - Speech without Language" (2005)

Liesl Ujvary Liesl Ujvary (1939-, Pressburg/Slovakia) moved to Austria in 1945 and spent her childhood in Lower Austria and Tyrol. She studied Slavonic, old-Hebrew literature and art history in Vienna and Zurich. After some visits in Moscow she finished her dissertation on Ilja Ehrenburg’s ‘Julio Jurenito’ at the University in Zurich in 1968. She held a university teaching position for Russian language and literature at the Sophia University in Tokyo, and lives as a writer in Vienna since 1971.
Ann Cotten Ann Cotten (1982-) was born in Iowa, but her family moved to Austria when she was five. After growing up in Vienna, she just moved to Berlin last year, having stirred up a raft of critical attention with her first book of poetry, Fremdwörterbuchsonette ("Foreign Dictionary Sonnets"). The Frankfurter Rundschau interviewed her recently, and an English version of that article can be read at Sign and Sight.
Hanno Millesi Hanno Millesi (1966-, Vienna) studied art history in Vienna and Graz. From 1986-1992 he worked with Galerie Krinzinger in Vienna; from 1992 to 1999 assisted Hermann Nitsch’s "Orgien Mysterien Theaters"; 1999-2001 hung out at the Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien; all the while working at his own writing (as well as his guitar, in the band ALBERS).
- OK, preliminaries out of the way, why tell you about these three Austrian writers on our trusty new-music site? Because among Ujvary’s kalideoscopic interests and activities is music and sound art, which for the last ten-plus years she’s been broadcasting on radio and issuing on CD. The link on her name above will take you to her main website; from there the "musik" button will send you to a whole compendium of these, most available as free MP3 downloads as well as standard CDs. But clicking the other link above this post will take you directly to the 2005 CD Ghostengine - Sprechen ohne Sprache ("speech without language"). In this essay Ujvary, Cotten and Millesi all interact with an Etherwave theremin, trying to create a a kind of intuitive, wordless "speech". Ujvary also processes this using a Kaoss pad - a wonderfully fun device from Korg, that lets you control all kinds of processing in realtime, with a few movements of your fingers. Interleaved between the solo "speeches" are four mixes by Ujvary, where she combines, varies and elaborates the three solos.

Mahler it most certainly is NOT; but it is a wonderful soundscape, that somehow captures a bit of each of its collaborators.

in: http://www.sequenza21.com/index.php/568

 

"Alphaversionen" ist nicht nur ProgrammiererInnen ein vertrautes Wort für "frühe Testversionen, an denen noch gearbeitet wird" ... In einen literarischen Kontext gestellt, regt es dazu an, weitere semantische Ebenen auszuloten: Bezieht sich "Alpha" auf die Buchstaben, das Alphabet, "Versionen" auf Variationen, Brechungen? Vom ersten Satz an ist indes klar, dass die Computerwelt den Kontext absteckt. Die Buchstaben, auf die der Textstrom zuläuft, sind I, C und H, es geht ums Ich und dessen Strukturierung und Generierung, Programmierung und Manipulation, womit das Terrain der anspruchsvollen Science-Fiction betreten ist: beleuchtet und vorgeführt wird das künstliche Ich.

Genauer gesagt ist es der Entstehungsprozess, der zum "Artificial I" führt, der festgehalten wird. Nicht an einem Erzählfaden baumelnd, sondern in kleinen, durchnummerierten Häppchen treten direkt und dokumentarisch die "Alphaversionen" in Erscheinung. Dabei handelt es sich um "Blöcke von Segmenten des Nervenflusses, die in den Bereich des Wahrnehmbaren treten und beobachtet werden können" ... Der Nummernverlauf oszilliert und ist übers Buch gesehen absteigend, vielleicht folgt er irgendeinem opaken Algorithmus, eher aber repräsentiert er aleatorisch aus einem Datenwust gezogene oder übriggebliebene Informationseinheiten, die wie Logbucheinträge wirken ... Der sehr persönliche Stil verstärkt den Eindruck eines Diariums, das Ich, das sich ausspricht und sich laufend unter Schmerzen verändert und Machtinteressen gefügig gemacht wird, ist das einer Forscherin, die mit dieser Forschungsarbeit über das menschliche Bewusstsein beschäftigt ist und die im Selbstversuch das Ich-Programm testet oder an der es getestet wird. Oder ist es schon eine Maschine, die sich plötzlich daran erinnert, ein Mensch zu sein? Stationiert ist die Bewusstseinsforschung an geheimen und entlegenen Orten, die - Google Earth lässt grüßen - ständig und schnell wechseln: mal die "sibirische Steppe", mal Wald, mal eine Ruinenlandschaft, mal Bergkuppen, mal "stachelige Yuccapalmen" mit Klapperschlangen und Skorpionen, mal eine "unbarmherzige Stadtlandschaft", mal "sieht es nach einer Oase mit Palmen, Tennisplätzen und grossen Swimmingpools aus" ... oder wechselt hier laufend die Filmdatei oder der Bildschirmhintergrund? Wechseln die Bilder im Kopf? "Egal. Lausche den Wellen. Du lebst in der Kommandosoftware".

Was hier entsteht, ist kein wie auch immer geartetes "höheres" oder "besseres" Ich, ... sondern ein ganz normales Allerwelts-Ich in all seiner Komplexität, das aber systemtreu und militärisch gehorsam funktioniert, auf Knopfdruck. Spätestens seit William Gibsons Kultroman "Neuromancer" und dem Spielfilm "Matrix" ist die Vorstellung, dass die Welt Computerprogrammen folgt, Mainstream. Aber anders als in vielen Splatter-Sci-Fis entwickelt das Cyborg-Ich in "Alphaversionen" ein starkes emotionales Wissen und seine Gefühlswelt wird wissenschaftlich akribisch herausgearbeitet und nachgezeichnet, einschließlich der Frage, wie Gefühle programmiert sind und werden können. Das klingt in allen Sequenzen des Buches an und dieses Ich hält auch immer eine Erzähler- und damit Beobachterdistanz zu den Abläufen, mit denen es konfrontiert wird, die es in einem sachlichen, manchmal von saloppem wissenschaftlichem Laborjargon getragenen Duktus mit Wertungen und Beschreibungen der inneren Zustände füllt. Viele Sätze tragen Trench-Coat, wie Eddie Constantine als Lemmy Caution im Godard-Film "Alphaville“. Und Fluchtpläne werden gehegt: "729 Ich versuche mir die Tränen wegzuwischen, reibe mir dabei aber nur Schmutz in die Augen. Ich fange abermals an zu weinen. Überleg einmal wie du rauskommst, wie du wirklich rauskommst".

Liesl Ujvarys Texte gehen immer viele Schritte über konventionelle Erzählschemata hinaus, da gibt es kein Schiffchen, auf dem sich die Figuren tummeln und das sich zum Schluss, einen behaglichen Textteppich hinterlassend, mit dem Namen "Ende" zu erkennen gibt. Die Erzählperspektive ist vielmehr die einer Sonde, die als Raumkapsel in die Hirnkapsel taucht, an Bord sind ganze Bibliotheksabteilungen: Von der Kybernetik über Informatik bis zur Modelltheorie und vor allem Memetik spannt sich Mem für Mem, also "Kultur-Gen" für "Kultur-Gen" ein Netz auf, in dem sich das Ich verfängt, zu verändern beginnt, aus dem es schließlich entkommen will. Ein höchst schwieriges Unterfangen, denn "memische Toxine erfordern keinen physischen Kontakt. Sie verbergen die Wahrheit vor uns". Physisch ist es ein Netz aus Kabeln und Anschlüssen, über die biotechnische Versuche durchgeführt werden, jede "Alphaversion" ist somit auch ein Ergebnisprotokoll einer Versuchsreihe, zumindest ein Teil oder ein Ausschnitt daraus. Auf atemberaubende Weise verweben sich Wissenschaft und Fiktion und an jeder Stelle wird deutlich, dass die Fiktion keine weit hergeholte ist, sie ist beklemmend nah.

In den beiden längeren Einschüben "Translator 01" und "Translator 02" wird das Ich-Programm draußen in der Welt erprobt - draußen in der Welt, das heißt am Kriegsschauplatz, auf dem Schlachtfeld: "Ich sehe etwas Glitzerndes auf mein Gesicht zufliegen, werde nach hinten geschleudert, Schwärze". Der Bioroboter ist auf Empfang gestellt, Befehlsempfang, in einer apokalyptischen Szenerie mit fraktalen Landschaften und Lichtblitzen, die über den Himmel jagen, führt der Feldzug in "Translator 01", durchsetzt von traumartigen, psychedelischen Bildern ("Ein schwarzes Fenster öffnet sich. Die Nahaufnahme eines schlafenden Gesichts", vorbei an einer Fabrik, in der "ein künstliches Wesen entsteht", und endet in einem Gefühl des Verfolgtseins, was zu Systemausfällen führt. In "Translator 02" funktioniert das Ein- und Ausschalten des Bewusstseins schon ein bisschen besser, zugleich werden die Fragen und die Zweifel deutlicher: "Ich halte mich im Hintergrund, ich habe nichts mehr zu bieten - meine beste Idee gehört euch schon". Im letzten Abschnitt, "Alte Fronten", nähert sich der Countdown 0. Oder 1. Die Forscherin ist aus dem von ihr entscheidend mitgeprägten System ausgebrochen, plant, auf sich allein zurückgeworfen, die Rettung. Sie versucht, in das System, das kaum jemand so genau kennt wie sie, einzudringen, es umzucodieren, und...

Die weiteren Schritte werden hier nicht genannt. Um an sie zu kommen, müssen Hände und Augen an die Mensch-Buch-Schnittstelle, das Text-Interface "Alphaversionen" angeschlossen werden, als Beitrag zur Befreiung der Hände, zum Öffnen der Augen, wider die Marionettisierung.

Günter Vallaster, 18. Juli 2007, www.literaturhaus.at, über Alphaversionen. Prosa.128 S.; brosch.; Eur 15.-, Wien: Sonderzahl, 2006. ISBN 3-85449-256-1.

 

Es ist nicht schwer, von den Texten Liesl Ujvarys auf Ludwig Wittgenstein und seine "Philosophischen Untersuchungen" zu kommen. Da wie dort ist die Problematik von Sprache und Bewusstsein zentral. Was in "Translator" einmal mehr vorgeführt wird, ist der "Aufmerksamkeitszustand" eines schreibenden Ich, das sich "das Wort 'Selbst' vorspricht und seine Bedeutung analysieren will". ...

"Translator" führt auf raffinierte Weise vor, wie Entpersönlichung vor sich geht oder gehen könnte, er zeigt das authentische Ich als Konstruktion. "Ich weiss nicht, was ich fühlen soll", das ist nach unserem Sprachgebrauch eine paradoxe Formulierung, nehmen wir doch an, dass jedes Ich per se etwas fühlt, ob es nun will oder nicht. Die Frage, was man fühlen solle (nach dem Willen eines höheren Programmierers?) stellt sich so nicht. Das Gedankenspiel, zu dem der Text einlädt, löst vermeintliche Sicherheiten auf. Menschliches Bewusstsein erscheint als Konstrukt, das man sich "installieren" lassen kann. Es bleibt freilich die Frage: "Weiss es, dass es nur ein Konstrukt ist?" ...

Der auktoriale Erzähler ist durch ein vieläugiges Ich abgelöst, dessen Wahrnehmung nach dem Alltagsverständnis von Realitätsbezug allerdings unzuverlässig funktioniert: "Die Nahaufnahme eines schlafenden Gesichts. Ich erwache und sehe ein Gesicht, das mich aus unmittelbarer Nähe beobachtet. Mein Gesicht ist blutverschmiert." ...

In "Translator" führt die Autorin eine Operation am offenen Gehirn durch, zugleich an der Schaltstelle eines vernetzten Systems: Das "Ich" agiert gleichsam als sein eigener Captain Kirk - die Vorstellung vom Universum als einem gigantischen Computer findet sich schon in Ujvarys Band "Kontrollierte Spiele". ...

Die Metafiktion, die hier programmatisch geschieht, das Infragestellen und Kommentieren des Erzählten, ist freilich auch ein Charakteristikum der literarischen Postmoderne. Ujvarys radikaler Konstruktivismus behauptet hingegen: Der Blick erschafft die Welt. "Die redigierte Welt" lautet der Titel eines Ujvaryschen Schreibprojekts. "Reflexiv" meint mit dem Spiegelbild stets auch Selbstbezüglichkeit: Hier ist es "das Denken, das sich selbst denkt" (Ujvary).

Wie man mit Sprache die "Kluft zwischen Bewusstsein und Gehirnvorgang" übersetzen könnte, ist eine der wesentlichen Fragen, über die Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" nachdenkt. Ist da zum Beispiel Raum für Sprache zwischen Schmerz und Schmerzäusserung? Der Schriftsteller ist der Translator schlechthin, einer, der überträgt. Wittgenstein: "Nicht darum handelt es sich, dass unsere Sinneseindrücke uns belügen können, sondern, dass wir ihre Sprache verstehen. (Und diese Sprache beruht, wie jede andere, auf Übereinkunft.)" Auch die Übereinkunft dieser Sprache wird in einem Text wie "Translator" aufgekündigt.

(Daniela Strigl über Liesl Ujvary: Translator. Wien, Kolik Heft Nr. 31 / 2005)

 

Piloten, Götter, Programmierer

So verhalten diese Anspielungen sind, so tendenziös es sich bei diesem Buch um eine "psychologische science fiction" handelt, gelingt es Liesl Ujvary in den 7 Texten sensibel die Grenzen zwischen Zukunft und Gegenwart zu verwischen - und so befinden wir uns mittendrin, in einem Rausch ohne Anfang und Ende aus wuchernden Diskursen, Codes, Programmiertechniken- und Materialien, sind wir Rädchen alle Assistenten für Maschinen-Denken. Schick, denn bedeutungsschwer für das Ego ist die Bezeichnung "Interfacer". Nach einem selbst geht es noch weiter, das klingt nach einem echten Sinn des Daseins

Dabei liefern die Inputs für den Vernetzungswust natürlich Entscheidungsinstanzen. Ujvary moduliert die Bewusstseinsmechaniker mit Metaphern wie "Pilot" und "Programmierer". Als Code-Geber, Spiele-Schaffer ist letzterer Allegorie für Gott und Symbol für Macht, ersterer für Raum-Kontrolleur und Simulationsprofi. Als Machtkonzentrate investieren sie in den Status quo. Das kleine Bewusstseinsrädchen verkörpert dagegen paradoxe Denk-Möglichkeiten des Andersartigen - gedanklich ist bekanntlich nichts verboten. Ujvary wie immer also extrem technophil, sehr politisch.

Eine Art Realismus

Da diese Autorin alle gängigen Theorien intus hat, was ihre Bücher nämlich ausspucken, bleibt die Frage der literaturwissenschaftlichen Einordnung ein kleines Fressen. Provokant könnte man das, was Ujvary liefert, auch als neuen Realismus verstehen. Er fußt auf einem klaren erkenntnistheoretischen Bewusstsein: "Immer sind es die dominanten wissenschaftlichen Diskurse als erste und letzte Instanz, die Beschreibungsmöglichkeiten liefern", heißt es kritisch in "Kontrollierte Spiele", dem ersten Text, der als Art Metareport für die kommenden sechs gelten mag. Keine Wirklichkeitsmodelle will sie überbieten, trotzdem ist jeder Gedanke theoretisch. Und natürlich selbstredend an das eigene Sprachspiel gebunden. Ujvarys Bewusstseinsfiguren wissen extrem viel, zuallererst aber, dass sie nur sind, was sie sind: Rädchengehirne, deren Horizonte begrenzt sind.
(Marietta Böning, derstandard.at, 28. Mai 2004)

 

"Natürlich besitzen wir alle einen gewissen 'Spielraum' ..." Bei Robert Crumb, dem amerikanischen Comix-Zeichner, gibt es einen Ministrip mit dem Titel "The Box". Zwei Figuren, die im engsten Raum zusammengekauert in einer Schachtel sitzen, diskutieren bzw. beklagen sich über den unvorteilhaften Zustand der Welt. Liegt es an der Welt oder an ihnen selbst, wenn sie unglücklich sind? Während die eine der beiden Figuren die andere vom Letzteren zu überzeugen versucht, stößt jene in einem Verzweiflungsausbruch ein Loch in die Schachtel. Erschrocken über die unbeabsichtigte Wirkung dieser reflexartigen Handbewegung, beschließen sie, das Loch besser zuzustopfen, und stellen dadurch den alten Zustand ihrer Schachtelwelt wieder her. Dass ihre enge Welt mitten in einer offenen Landschaft liegt, bleibt ihnen auf diese Weise verschlossen.

Das Phänomen der Schachtelwelten könnte man auch als einen Ausgangspunkt von Liesl Ujvarys Texten ansehen. Als Neophile, wie sie sich selbst bezeichnet, versucht sie freilich nicht, Löcher zu stopfen und Fugen zu verkitten. Vielmehr ist sie bestrebt, Ritzen und Öffnungen in den einzelnen Welten auszuforschen - wofür sie ein feines Sensorium besitzt -, um möglicherweise durch sie hinauszutreten aus einer Schachtel in eine größere Welt. Oder zumindest zur Abwechslung in eine andere - nicht schlechter bestellte - Schachtel.

"Als hätte man sein Leben in einer kleinen muffigen Kiste verbracht und sich darin fast wohlgefühlt, in Ermangelung besseren Wissens ... und hätte dann ein kleines Loch entdeckt, eine Öffnung, diese vergrössert durch Herumbohren, bis ein immer grösserer Riss entstanden wäre, bis die ganze Kiste zerfallen wäre, und man heraustreten könnte in die kühle klare Bergluft, inmitten tiefen Tälern, seufzenden Wäldern, erhabenen Gipfeln, glitzernden Seen, funkelnden Schneefeldern und einem tiefblauen Himmel."

Das Setting des Heimatromans, das hier verwegener Weise durchklingen mag, täuscht allerdings. Es ist bei Ujvary genau so wenig zu erwarten wie das eines - wie sie meint - in Österreich allzu verbreiteten negativen Heimatromans. Darauf deuten bereits die Titel der einzelnen Prosastücke des Bandes hin: "Bad Sector", "Heavy Tools", "Im Wahrheitsraum", "Geheimsignale, Wortfolgen"... Sie lassen vielleicht auch schon einige der Themen erahnen, die der Autorin am Herzen liegen und durch den Kopf ziehen, bevor sie in ihren Texten verarbeitet, verwandelt und neu zusammengewürfelt auftreten. Sie umfassen unter anderem Fragen der künstlichen Intelligenz und Gehirnforschung, Theorien der Erforschung des Beobachters und Theorien der Wahrnehmung. Das Unternehmen insgesamt versteht sich als ein groß angelegtes und immer wieder neu organisiertes Wahrnehmungsexperiment, das unangefochtene Vorannahmen außer Kraft setzt, kontrollierte Spiele in ihrem Regelwerk stört. "Entspann dich, es ist an alles gedacht", heißt es da zwar. Doch die Verunsicherung beim Leser und bei der Leserin wird immer wieder von neuem motiviert: "Die ganze Sache ist höchst illegal."

Dass die Autorin ihre Texte Artefakte nennt, kann man kaum ernst genug nehmen. Hiermit ist nicht allein das Kunsterzeugnishafte ihrer Texte angesprochen. Auch die elektrotechnische Bedeutung des Begriffs als Störsignal oder die medizinische Bedeutung "einer meist mit einer Täuschungsabsicht verbundenen, künstlich hervorgerufenen körperlichen Veränderung (z. B. Verletzung)" lässt sich für eine Charakteristik der Texte ausbeuten. Ihre Zwischenstellung zwischen politischem Essay, science fiction und Poesie, wie bereits im Klappentext angekündigt, ist dafür formal maßgeblich verantwortlich. Der Wechsel von essayistischer zu fiktionaler Schreibhaltung wird zur Gratwanderung. Auf diese Weise werden Erwartungshaltungen der Lesenden subtil, mitunter auch schmerzhaft gestört. Bilder werden evoziert, um sie im nächsten Augenblick wieder implodieren zu lassen. Genrewechsel ereignen sich als Übergang von einer Vorstellungswelt in eine andere, werden damit aber nicht irreversibel, behalten sich vielmehr etwas Changierendes. Das Modell der Schachtel reicht daher nicht aus, um die verschiedenen Überlagerungen von Zuständen und Überlappungen von Welten zu erfassen, die im Zentrum von Ujvarys Prosa stehen.

Darin ist auch die Ursache für die Komplexität dieser Texte zu sehen, die auf den ersten Blick aus einer einfachen, durchsichtigen Sprache mit vorwiegend parataktischen Strukturen bestehen: "Die Hälfte meiner Sätze kann in der Kronen Zeitung stehen!" Paradoxerweise, so könnte man sagen, setzen sich die Kronen Zeitungs-Texte jedoch aus Schachtel-Sätzen zusammen und bewahren sich dadurch ihre Simplizität. Sie verbleiben sozusagen in einer Schachtel, während Ujvarys Sätze nicht nur ständig an ihren Außengrenzen kratzen, sondern gleichzeitig mehreren Ebenen angehören. "Zumindest schreibe ich keine Kronen Zeitungs-Texte", so die Autorin bei einer Lesung.

Entsprechend sieht Ujvary etwa auch die Funktion des Schriftstellers in der Position eines Agenten, der zwischen den Welten vermittelt, wie sie es in einem anderen Zusammenhang ausgedrückt hat. "Vielleicht sollten wir Schriftsteller uns als Kontaktleute sehen, die sowohl in unserer grossen Welt leben können oder dürfen, als auch in den kleinen virtuellen Kunstwelten, die manche von uns in der Literatur entwerfen."

"Natürlich besitzen wir alle einen gewissen 'Spielraum' ...", heißt es in dem Text "Kontrollierte Spiele". Doch was, wenn er sich etwas erweitern ließe?

Martin Reiterer, Kontrollierte Spiele. 7 Artefakte. Nachwort: Im Stroboskop der Wahrnehmungsblitze. Liesl Ujvary im Gespräch mit Martin Kubaczek.
Wien: Sonderzahl, 2002. Literaturhaus, Originalbeitrag,
3. März 2003

 

Als „Artefakte“ präsentieren sich die einzelnen Abschnitte des Buches, die allesamt ein wahrnehmendes Individuum in je unterschiedlicher Versuchsanordnung vorführen. „Das Laboratorium für diese neuen Räume der Wahrnehmung sind die Strasse, die Fabrik, die Einkaufspassage, das Kino. Die Technik unterwirft das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Was am Fliessband den Rhythmus der Produktion bestimmt, wird im Film zum Schock: Arbeit als Warten darauf, dass etwas geschieht.“ Fast jeder Satz entwirft solche Verkettungen von Bildern. (...) Was sich wie eine lose Folge von Assoziationen anlässt, wird zusehends zu einem Flanieren in einem Gelände, das durch die Sprache genau vermessen wird. „Meine Recherche konzentriert sich auf das Verhältnis von Technik und Körper.“ Doch widerstrebt der ganze Fortgang des Textes dem Prinzip der Konzentration, er löst traktathafte oder erzählerische Kohärenz auf, er begnügt sich, aus dem Wissen, dass das schon mehr als genug ist, ein Problem aphoristisch anzupeilen, um gleich darauf dem nächsten Aphorismus eine Chance zu geben. Das Verfahren irritiert; hier ist jede didaktische Absicht, die uns gegen die Medien immun machen sollte, suspendiert, vielmehr wird die Irritation, die von den Medien ausgeht, mit einer Gegenirritation opponiert, wodurch diesen dynamischen Texten ein wirksames Ferment beigemengt wird, das sowohl dem Erkenntnisinteresse förderlich ist und auch unser Bedürfnis nach sublimem Witz bedient.

Wendelin Schmidt-Dengler, über Kontrollierte Spiele. 7 Artefakte. Volltext Nr.4, Dezember/Januar 2002/2003

 

Liesl Ujvary ist deklarierte „Neophile“: Sie liebt das Neue, eignet sich die jüngsten Computerprogramme und wissenschaftlichen Diskurse an und treibt mit ihnen ein hintergründiges Spiel, in dem das Ich ausser Kontrolle gerät. Sie finde ihre Texte keineswegs schwierig, beteuert L.U., sondern „deppeneinfach“. Jeder ihrer Sätze könne auch in der Kronen Zeitung stehen: „Ich tue es die ganze Zeit.“ Zum Beispiel. Aber was tut sie? L.U. konstruiert Sätze, die einfach sind. Ihre Prosa besteht allerdings nicht aus einzelnen Sätzen, sondern aus Tableaus, die absatzweise Bewusstseinsräume eröffnen. Diese werden unvermittelt wieder geschlossen, cut, um ein neuerliches Eintauchen zu ermöglichen; ein Eintauchen in die Wahrnehmungslandschaft eines nicht greifbaren Ichs, das sich assoziativ treiben lässt. An dieser Stelle bitte nicht an Befindlichkeitsprosa denken! Denn L.U. konfrontiert in ihrem neuesten Buch „Kontrollierte Spiele“ ein Ich mit Versatzstücken aus der Science Fiction, beschreibt es in der „Metaphorik der neuen Medientechnologie“ und erreicht durch diese Verfremdungsstrategie ein hohes Maß an differenzierter Wahrnehmung. Wobei es der Autorin um die Beschreibung einer allgemeinen Situation geht: „Das bezieht sich auch auf Österreich, aber ich schreibe eben nicht diesen negativen Heimatroman, den fast alle hier schreiben. Das ist ein schmaler Tellerrand. Wir leben jedoch in einer ganz anderen Welt, wo ganz moderne Dinge und ganz archaische ineinander greifen, wo die Steinzeit, aber auch virtuelle Räume immer präsent sind.“ (...) Der Text „Bad Sector“ ist „ein Bild für das Individuum“. Dieses ist fehlerhaft und befindet sich stets an der Kippe zum Kontrollverlust, der in paranoiden Strukturen seinen Ausdruck findet. Verschwörungstheorien, Verfolgungswahn und diffuse Ängste durchziehen Ujvarys Literatur, die in „Heavy Tools“ in der Figur des Mutanten ihre Komplexität entfalten. Was die Autorin unter „Mutant“ versteht, macht sie vom jeweiligen Kontext und Standpunkt abhängig: Die Nazis bezeichneten damit die Juden, Franz Josef Strauss die Achtundsechziger, heute wird es gegen die Ausländer verwendet. Es ist die „Metapher für abartige Menschen“ und bezeichnet das Fremde, das Andere, das Angst macht, weil es sich der Kontrolle entzieht. (...) Wem ist noch zu trauen? „Blade Runner“ lässt grüssen.

Alexandra Millner, Cool und kriegerisch. Über L.U. Kontrollierte Spiele. 7 Artefakte. Falter 42/2002

 

Zwischen Klangskulptur und Techno-Track, zwischen Musique Concrete und Clicks’n’Cuts, pendelnd von E- zu U-Musik öffnen sich hier Einblicke in eine Welt von Mutation und Alltäglichkeit, die eine Collage aus Paranoia, Trancezuständen, Banalität und einer noch nicht absehbaren aber möglicherweise zwielichtigen Zukunft bilden.

Oliver Stummer, skug 51, 2002, über „heavy loops version“ CD Kunstradio bei Extraplatte

 

In ständigem Satz, Gegensatz und Neuansatz ertastet sich die Autorin von Texten, Klangwelten und Bildkonfigurationen einen genuinen Weg von Erkenntnis und Interesse. Der reinen Neugier eines künstlerisch Reinen Gehirns kompromisslos sich verpflichtend, offenbart sich Ujvarys Oeuvre als ein im eigentlichen Sinne multi-mediales Werk: ein work in progress aus Denken, Worten, Bildern und Tönen, das stets neue Kontexte, Wissensgebiete und mediale Implikatonen erschliesst. Humanistischer Hintergrund und prononciert modernes Literaturverständnis verzahnen sich hier mit dem Treibgut der Popkultur, dort mit naturwissenschaftlichen Daten. Im blade running auf der Demarkationslinie zwischen Sublimem und Trivialem verkreuzt Ujvary Techno mit Anagrammatik, Neurologie mit Spieltheorie, Cyberpunk mit Diskurskritik. Mitnichten nivelliert die Autorin allerdings die Bausteine solcher Samples, sondern sie erkundet und aktiviert mit deren Aufruf auch die jeweiligen Bedeutungshöfe – und bleibt damit stets auf der Suche nach neuen „vertretbaren“ Metaphern. (...) Sprachlich differenziert erzählen die konzentrierten Prosagefüge von immer neuen Versionen und Visionen des fortgesetzten Selbstversuchs. Reines Gehirn bzw. NeuroZone: So heisst die ureigene Materie, an welcher L.U. ihre Versuchsanordnungen durchführt. Die textuellen und pikturalen Protokolle sezieren das Selbst und sein Bewusstsein und vollziehen eine methodisch reiterierte Autobiopsie. Wo die Texte die Fieberkurve komplexer Rückkoppelungen zwischen Ich und Umwelt, Schöpfer und Werk – also zwischen den Realitäten verschiedener Ordnungen – nachzeichnen, offenbaren die manipulierten Selbstporträts sinnfällig, wie Ujvary den eigenen (symbolischen) Körper als Material für künstlerisch-forschende Machinationen benützt. (...) Das hat mit Terror und Spiel gleichermassen zu tun, ganz nach der Perspektive, die der Betrachter wählt: Sind diese Selbst-Verrückungen Maskenspiele der Repräsentation oder konstituieren sie ein autopoietisches Theater der Grausamkeit? Offenbar jedenfalls ist, dass L.U. von Bild zu Bild einen Prozess der Re-flexion offenlegt, der wenig mit Eitelkeit und Selbstschutz zu schaffen hat, noch weniger jedoch mit dem gängigen ästhetischen Jargon. (...) Als ständig neu formuliertes Projekt, als ständig neue Versuchsanordnung in Wort, Ton und Bild ist Ujvarys Werk ein intransitives: Hier wird nicht ein Wahres-Gutes-Schönes als einmal Erreichtes vorgeschlagen. Hier wird kein plot mit bad oder happy end gerundet. Hier gibt es keine gehorsamen Romanfiguren als identifizierbare Sprachrohre für wiedererkennbare Diskurse. Hier wird keine Überzeugungsarbeit geleistet, kein Überwältigungseffekt erzielt. Hier bezwecken die künstlerischen Mittel keinen marktkompatiblen ästhetischen Kitzel und missionarische message/massage. Hier weden keine sangbaren Melodien dargereicht. Intransitiv will meinen: Das künstlerische Experiment wird im Vollzug vorgestellt und der Rezipient eingeladen, Projekt und Autorin ein Stück des Erkenntniswegs zu begleiten.L.Us. Arbeiten mit und in den unterschiedlichen Kunstformen der Kultur zielen nicht auf den Effekt synästhetischer Trance, sondern im Gegenteil: Sie sind parallele Laboratorien für die Experimentierlust einer zügellosen Forscherin.

Christiane Zintzen, Wespennest 119, Aus der NeuroZone ins Reine Gehirn. Prolegomena zu Liesl Ujvarys Text- und Bildarbeit

 

Wer Bücher wie „Heisse Stories“ oder „Das reine Gehirn“ zur Hand nimmt, wird vielleicht erschrecken: Kann man so präzise über sich selbst schreiben? Kann man sich auf diese schonungslose Weise beobachten? (...) Liesl Ujvary ist auf eine Weise bedingungslos modern: Sie hat Wiener Vorlesungen über die Chaostheorie gehalten, als dieser Denkansatz erst Wissenschaftlern ein Begriff war. Heute referiert sie über elektronische Musik und produziert selber welche. Sie experimentiert mit neuester Software und spielt in „NeuroZone“ durch, was sich mit dem Gartenplanungs-Programm 3D-Landscape so alles anstellen läßt. „Um etwas zu beschreiben, stehen einem verschiedene Metaphoriken zur Verfügung“, sagt Ujvary. „Ich beziehe mich eben auf urbane Techniken. Es gibt schon zu viele österreichische Romane, die in den Gamsbart-Welten spielen“.

Bettina Steiner, Die Presse 27. 12. 2001, Bunt ist die Technik, lustig die Paranoia. Porträt Liesl Ujvary

 

Ich-Gott oder tote-Puppe kann ich werden, wenn die andere in mir die Fäden scheinbar in die Hand nimmt und die Steuerungsmechanismen der Gesellschaft doubelt. Die Konsequenzen innerer Revolten, Abkömmlinge einer durch das soziale Umfeld gestörten psychogenen Entwicklung, schlagen auf mich selbst zurück: mein inneres System, sozialisiert wie eingerissen, bäumt sich auf, mit den ganzen Nervenspuren der Vergangenheit. Die Konsequenzen sind klar: es handelt sich um die Erkenntnis, dass es keine Schnittmenge zwischen den anderen und mir geben kann. Es ist kein reales, ideologiefreies Wir möglich. Um diese Dramatik einer Ich-Identität dreht es sich in den Werken der Wiener Autorin Liesl Ujvary. (...) Bei Ujvary sind es die schwimmenden Subjektfunktionen und Selbstinszenierungen, die parallel angeordneten Beobachterebenen, mit denen ihr Status sich von Metasprache als versuchter einziger Metasprache unterscheidet. Weltenrepräsentationen offenbaren sich, die durch keine wissenschaftliche Methode in diesem, hier wichtigen Sinne besser nahegebracht werden können. „Sie“ wird durch den hier geschriebenen literarischen Stil gerettet. Und realistischerweise ist das, hoffen wir doch, trotzdem keine Utopie.

Marietta Böning, Lichtungen 85, 2001, Reinstes Drama der Analyse. Zu Liesl Ujvarys literarischem Paradigma des reinen Gehirns. Lichtungen 85, 2001

 

In Romanen wie Lustige Paranoia (1995), Das reine Gehirn (1997) bietet die Schriftstellerin, die sich – beginnend beim Hoffmannsthal’schen Sprachzweifel – dem sprachkritischen Umfeld der Wiener Gruppe zugehörig sieht, dem Leser gefährliche Denkspiele an: Wahnvorstellungen erwachsen übergangslos aus den wohl geordneten Denksystemen einer hierarchisch fixierten Gesellschaft. (...) Ujvary fühlt sich beim Schreiben oft wie „ein Soldat, ein einsamer Einzelkämpfer“. Manchmal überlegt die Autorin mit der besonderen Vorliebe für Science Fiction, ob diese Welt nicht einfach eine „Mikrobenfarm“ ist, gehalten von Aliens, die ein verrücktes Spiel mit Möglichkeitsformen menschlicher Existenz treiben.

Sandy Lang, Der Standard 23. Juni 2000, Die Zeichen der Mikroben. Liesl Ujvary über Spracharbeit in der Industriegesellschaft

 

Liesl Ujvarys neue CD „sprache der gene“ (Kunstradio bei Extraplatte 1997) nimmt als Basis der Inspiration die Permutationen und Wiederholungen des genetischen Codes. Die vier Elemente, aus denen er besteht, ihre vielfältigen Kombinationen, die Wiederholungen, die letztlich das ausmachen, was an Information (weiter)gegeben wird, werden als musikalische Loops, sich wiederholende, sich fast unmerklich immerwährend verändernde Schleifen dargestellt und bringen eine feine Ironie zum Ausdruck: die Ironie der Sprache der Gene. Fast meinte ich an manchen Stellen ein hintergründiges Kichern wahrzunehmen, ein bösartig-monströses „Ätsch“ oder das bedrohliche Blubbern der sogenannten „Ursuppe“, in der Stanley Miller 1950 mittels elektrischer Entladung „Leben“ in Form von Aminosäuren erzeugen konnte (und wem fällt dabei nicht Mary Shelleys Frankenstein ein?). „Minimalistische Wiederholungen und Verschiebungen analoger Klangmuster bilden Leben ab, Randomisierungen erzeugen quasi Evolution, Strukturverschiebungen verweisen auf falsche Kopiervorgänge, auf Krankheit, Krebs und Tod“, beschreibt L.U. ihre Arbeit. Wortfetzen, Sprachsamples, gleichsam kommentierend eingesetzt, stellen einen Bezug zur Ebene der Sprache her. Die CD, den Thema entsprechend traurig und ironisch, fröhlich und boshaft, lustig und listig, kommt den Ambient-Hörgewohnheiten entgegen. Allerdings geht sie über Ambient hinaus: „Hardcore-Ambient“ kreiert L.U., als ich sie darauf anspreche, eine Bezeichnung für ihre Musik, die (scheinbar?) Widersprüchliches gekonnt „vereint“.

Ilse Kilic, An:schläge 1997/5, über L.U., sprache der gene, CD Kunstradio bei Extraplatte, Wien 1997

 

Liesl Ujvary ist eine Autorin, bei deren Lektüre man stets mitdenken sollte, dass die Wirklichkeit ein fragwürdiger Begriff ist. Diese Autorin will ihr denn auch nicht zu Leibe rücken, sondern ist mehr an unseren Vorstellungen und Denkmodellen von Wirklichkeit interessiert. Ihr jüngstes Buch probiert Spielmodelle aus und schafft eine Verbindung von Text- und Bildwirklichkeit. Oder doch nicht? Was geschieht hier eigentlich? Dank eines Computerprogramms erstellt Ujvary künstliche Landschaften, Modelle einer nicht existierenden Wirklichkeit, Kunstprodukte jedenfalls, „die Simulation einer Simulation“. Dazu gibt es kleine Texteinheiten, die ganz für sich allein stehen können, weil sie nie darauf abzielen, ein Bild zu erklären. Die nüchterne, menschenleere Welt im Bild, ein Ich, das aufbegehrt, das zu sich selber kommen möchte und sich abschottet, weil es mit dem Draussen um sich herum nicht fertig wird: „Ich bin eine Bürgerin der solipsistischen Nation. Was draussen passiert, kümmert mich nicht.“ (...) Das Ich, das sich hier zu Wort meldet, ist Schöpfer von Wirklichkeit und deren Beobachter. Das Ich schafft sich eine Welt, die es, weil es eine künstliche ist, jederzeit wieder verlassen kann. Die Schöpfung ist korrigierbar. „Ich kann jederzeit aussteigen, wenn ich will.“ (...) Das ist ganz und gar keine erstarrte Literatur, weil sie angeblich das, was wir so gern für das Leben halten, aus dem Text vertrieben hat. Das Leben schleicht sich durch die Hintertür herein. Das ist Literatur in Bewegung, Literatur als Prozess und Verwandlung eines unsteten Bewusstseins.

Anton Thuswaldner, Salzburger Nachrichten, 12. Okt. 1996, über L.U., NeuroZone, edition ch, Wien 1996

 

Ein Alptraum? Ein Video-Game? Endzeit-Tagebuch? Computer-Simulation? Solipsistische Zivilisationskritik? Streams of Consciousness im Cyberspace? Projektions-Babuschka? Die Leserin nimmt teil an einer annähernd perfekten Synchronisation psychischer Prozesse und technischer Programmabläufe. (...) Die Grafiken in diesem A4-formatigen, sich wie ein 60-Blatt-Schulheft anfühlenden Objekt mit dem „Textmarker“-orangen Cover erinnern zum einen an die Videostills aus den Holzerschen „Virtual Reality“ mit den vom Landschafts- und Gartengestaltungs-Computerprogramm „3D-Landscape“ erzeugten Seiten. In Ujvarys NeuroZone geht es um ein differenziertes Design menschlicher Umgebungen, immer in der Ahnung: „Die Sprache kann unerträglich heikel und ungenau sein.“ (...) In der Literaturkritik gibt es eine gängige Wendung, das Klischee einer „glasklaren Prosa“: Liesl Ujvary gibt einen Einblick davon, was das im besten Sinn sein könnte. Mit einem „Satz“ ist sie aus dem Bett und reisst auch die Leserin aus dem gemütlichen Eingerichtetsein; die gläserne Autorin begegnet so, parataktisch, in sprachlichen Sprüngen, der Unruhe, der Schlaflosigkeit – und provoziert sie von neuem in einer Prosa, die auf faszinierende Weise hochtheoretisch, zugleich körperlich und konkret wirkt, durchsichtig und undurchschaubar.

Petra Nachbaur, Inn 1996, über L.U., NeuroZone, edition ch, Wien 1996

 

Das reine Gehirn – damit ein Gehirn wirklich rein wird, muss es der Gehirnwäsche unterzogen werden. (...) Erzählt wird nicht im landläufigen Sinne; man hat vielmehr den Eindruck, an Sätzen einer universalen Erzählung zu partizipieren, die durch die Redende hindurchgehen.

Wendelin Schmidt-Dengler, Wespennest Nr. 111/1998, über L. U., Das reine Gehirn, Ritter Verlag Wien Klagenfurt 1997

 

„... nicht Literatur, sondern Psychokunst ...“ macht die Erzähler-Figur von Liesl Ujvarys neuestem Buch, ein „ich“, das sich mit „du“ anspricht, anspornt, das ausserdem von „wir“ und „sie“ (3. Person Plural) spricht, schwimmend in einem Monolog, den sie selbst unaufhörlich produziert, das Schreiben sprechend als einzigen Bannspruch gegen die Zumutungen, Beeinflussungen, Manipulationen, auch gegen die immer ungeheuerlicher sich zeigenden Entwicklungslinien gegenwärtiger Psycho-, Bio-, Gentechniken. War schon in dem Buch von 1993 („Hoffnungsvolle Ungeheuer“) Paranoia als Grundstruktur des Erzählvorganges angelegt, so wird im neuen Buch Paranoia zum Stoff, Motiv, Thema, Inhalt und schliesslich zur Organisationsform der Prosa. Sie wird beobachtet, beschrieben, ausgelebt, erlitten, genossen, verdammt und bejubelt von einem Subjekt, das sich voll und ganz den Drogen „Gehirntätigkeit“ und „Beobachtung der (eigenen) Gehirntätigkeit“ überlassen hat, während es versucht, die (auch sprachlichen) Grenzen von „eigener“ und „fremder“ Gehirntätigkeit auszumachen, zu definieren, festzuschreiben. Dass es sich dabei um einen Prozess handelt, dessen Ausdehnung in welche Richtung auch immer, abgesehen von einer gewissen Zunahme an Komplexität, ganz unsicher ist, macht Ujvarys Buch zu einem furios bodenlosen Leseerlebnis, das unwillkürlich Bemühungen auslöst, zu einer Selbstkontrolle in der Schwerelosigkeit des erschriebenen Psycho-Raums zu gelangen. „Jemand beschützt mich. Was bedeutet, jemand beobachtet mich.“ schreibt Ujvary, deren Figur ein nicht eingrenzbares Spiel mit sich als anderem, als andere spielt, bestimmt von den Polen Einsamkeit und Kontrolle. Jede Beziehung ist recht, selbst wenn ihr Preis Verfolgungswahn heisst, wenn Beziehung nur als Paranoia möglich ist. In diesem Sinne ist Ujvarys Buch der ultimative Beziehungsroman bzw. ein erster Beschreibungsteil eines offenen Projekts das DIE REDIGIERTE WELT heisst. Womit Liesl Ujvary das sich ständig weiterentwickelnde Theorienbündel des Radikalen Konstruktivismus als Selbst-Referenzebene ihrer Literatur herzeigt. Selbstorganisation und offene Selbstreferenz, die Welt als Text, die selbstbeobachtende AutorInnen permanent genauso hervorbringt, wie diese den Text, - ständig verbessernd, erweiternd, reduzierend, ineinander montierend. Wobei die Erinnerungen an die Reaktionen immer aus der Gegenwart stammen.

„Lustige Paranoia“ vermittelt mit grosser Eindringlichkeit Schrecken und Lust, Gefahr und Befriedigung, Verschlungenwerden und Menschenleere, wer sich darauf einlässt, ist stets davon bedroht, sich als „gestrandet am Ufer des Unbewussten“ zu erleben, wie die notdürftig eingegrenzte Figur der „Psychochirurgin“ einmal sagt. Ujvary ist eine dichte Prosa gelungen, die ein Lese-Energiefeld erzeugt, in welchem die konstruierende Psyche als Mosaik einer Simultaneität buchstäblich eingeschrieben ist. Also beste österreichische Literatur, die state of art ist, erschienen in einem in Konkurs gegangenen Verlag, von dem niemand weiss, auf welche Weise die ausgedruckten Bücher zukünftig im Buchhandel existieren oder nicht existieren werden. Schrödinger schaut uns an.

Herbert J. Wimmer, Wespennest Nr. 105/1996, über L. U., Lustige Paranoia, Ritter Verlag Wien Klagenfurt 1995

 

Über Kriegsberichterstattung (...) Liesl Ujvary sagt es so: „Ich unterstelle die Anwesenheit zahlreicher unsichtbarer Augen und Ohren um jeden Menschen, verborgener Einflüsterer, Kommentatoren, Verführer, Befehlsgeber und Komplizen.“ (...) Ich und Du haben keine Namen, und der Text macht Ernst mit der Theorie. Er lässt seine beiden Figuren sprachlich immer wieder ineinanderübergehen, verwischt die Grenzen, schafft Raum für Unschärfen, unklare Ränder. Und das hat interessante Folgen: „Kriegsberichterstatterin“ und „Kriegsteilnehmer“ sind nicht mehr zu trennen (...) immer stellen sich dieselben Fragen: Wer handelt, wer ist der Beobachter, welche Struktur leitet die „Kriege“? (...) Das Buch kennt keine Wahrheit, nur „Wahrheiten“ und lässt sie gut dekonstruktivistisch nebeneinander stehen, sich durchkreuzen. Mal wird ganz pathetisch von „Menschen“ gesprochen“, im nächsten Augenblick hat man Computer vor sich. Mal ist die geplante Revolte gegen die Gewalt des „Systems“ die Sehnsucht nach einer erlösenden Tat; ein andermal wird sie von den Figuren selbst psychoanalytisch als Gewaltphantasie gedeutet, der jegliche polititsche Motivierung fehlt. Mal ist es die Sprache, deren totalitäre Sinnstiftungsversuche unterwandert werden sollen. Mal scheint das „System“ ein Grosscomputer zu sein, den die Figuren als Viren in immer wieder neuen Anläufen zu desorganisieren suchen. Diese zehn Prosastücke, die Alltagssprache und Theorie in einer rasanten Folge kurzer Sätze zu einem komplexen Ganzen fügen, repräsentieren, was Liesl Ujvary gelungen ist: die sprachliche Darstellung der komplexen Intensität nervöser Wahrnehmung, der wir – ob wir es wissen oder nicht – alle unterliegen.

Hans-Peter Kunisch, Neue Zürcher Zeitung, 10. März 1994, über:
L.U.,Hoffnungsvolle Ungeheuer, Zehn Prosastücke. Deuticke Verlag, Wien 1993.

 

(wird ergänzt)